Als dann Ende Mai 1968 der sowjetische Ministerpräsident Alexej N. Kossygin mit seiner Enkelin Tanja zu einer Kurzkur nach der Tschechoslowakei kam (er blieb hier zwischen 17. und 26. Mai, verbrachte aber nur wenige Tage in Karlsbad selbst), zweifelte niemand, daß es sich um einen politischen Besuch handelte. Moskau setzte mit diesem Besuch seine „weiche Welle" gegenüber Prag in Gang, konnte aber auch später von Kossygins wohlwollenden Worten abrücken, weil er als Ministerpräsident nicht in erster Linie für die tschechisch-sowjetischen Parteibeziehungen zuständig war.
Zwischendurch bellten allerdings auch kleinere Hunde, wie etwa der 1. KP-Sekretär von Moskau, Viktor Grischin, der erklärte, daß „die Imperialisten bei ihren Plänen zur Schaffung von Verbindungen zu sozialistischen Ländern vor allem mit Revisionisten, Nationalisten und politisch unreifen Elementen rechneten, die von ihnen als Helden gefedert würden“.
Dann folgte aber der schwerste Schlag gegen die Tschechoslowakei und ihre neue kommunistische Führung, den der zuständige Mann, KP-Chef Breschnjew am 3. Juli 1968 selbst führte — und das bezeichnenderweise anläßlich einer sowjetisch- ungarischen Freundschaftskundgebung, bei der auch Kadar, dem man eher gute Beziehungen zum Prager KP-Chef Dubcek nachsagt, ins selbe Horn blasen mußte.
Breschnjew erklärte mit einem deutlichen Hinweis auf die Tschechoslowakei, ohne sie selbst beim Namen zu nennen:
• Der Weg zum Aufbau des Sozialismus könne sich in den einzelnen Ländern durch gewisse Eigenarten unterscheiden; die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen bleiben jedoch gemeinsam.
• Die Kommunisten sehen zwar ihre vordringliche Aufgabe im Aufbau des Sozialismus im eigenen Land, ihnen kann aber das Schicksal des sozialistischen Aufbaues in anderen Ländern nicht gleichgültig sein.
• Verfechter der bürgerlichen Ordnung sind bereit, pseudo-sozialistische Verkleidung beim Versuch anzulegen, unter dem Aushängeschild von nationalen Formen den Sozialismus zu untergraben und die brüderlichen Beziehungen unter den sozialistischen Ländern zu schwächen.
„Blöde Lügen!“
Hand in Hand mit dem politischen Tauziehen hörte man die dumpfe Begleitmusik der Generale. Sie war eigentlich von der ersten Stunde an hörbar, als noch am 9. Mai Gerüchte über Truppenbewegungen von Warschau in Richtung Süden laut wurden. Später sprach man von Manövern im südpolnischen Raum. Immerhin kam jetzt eine Phase, in der die
Militärs mehr als die Politiker im Vordergrund standen: Schon am
8. Mai war anläßlich der Befreiung Prags im Mai 1945 eine sowjetische Militärdelegation unter der Leitung von Sowjetmarschall Konjew nach Prag geeilt. Eine Woche später war es der sowjetische Marschall Moska- lenko, der die Tschechoslowakei besuchte und hier die Erklärung abgab, die Sowjetunion habe nicht die Absicht, in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei einzugreifen. Er erklärte allerdings gleichzeitig, daß es „in diesem Land in letzter Zeit einige Ereignisse gegeben habe, die keinen Beitrag zu den freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern darstellen“. Schließlich war es, wieder nur wenige Tage später, eine Delegation der sowjetischen Armee unter der Leitung von Verteidigungsminister Marschall Gretschko, die in Präg eintraf und der bezeichnenderweise auch der Chef der politischen Hauptverwaltung in der Sowjetarmee, General Alexander Jepitschow, beigegeben war. Die Delegation war allerdings, wenn auch überraschend schnell, einer Einladung des neuen Prager Verteidigungsministers Generaloberst Martin Dzur gefolgt. Interessanter als die nichtssagenden Berichte über die Gespräche dieser Militärdelegation mit Dzur. Dubcek, Cernik und dem Chef der politischen Hauptverwaltung in der tschechoslowakischen Armee Egrd Pepich, wobei naturgemäß die „unzerstörbare Freundschaft zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion“ betont wurde, war die für die sowjetischen Gäste überraschende Fraee der Reporterin von Radio Prag, Duna Havlickovä, an General Jepitschow, ob die Nachricht der französischen ‘Zeitung fc „Le Monde“ richtig sei, wonach die Sowjetarmee zur Intervention in der Tschechoslowakei bereit sei, wenn „loyale Kommunisten“ darum bäten. Die kurze Antwort Jepitschows lautete: „Blöde Lügen.“ Aber die Reporterin hatte nicht zufällig General Jepitschow gefragt: vertraulichen Informationen zufolge war er es gewesen, -der bereits Ende April bei einer Moskauer ZK-Sitzung eine militärische Intervention in der Tschechoslowakei vorgeschlagen oder verlangt habe, eine Nachricht, die in Prag allerdings als „provokante Erfindung“ abgetan worden war.
Das war aber nur das Vorspiel zu der im Juli folgenden Entwicklung. Nochmals gedachte Moskau, das militärische Druckmittel zu gebrauchen, wobei die längst geplanten „Stabsmanöver“ der Warschau-Pakt- Mächte eine günstige Gelegenheit boten. Und wieder ließen sich die Gerüchte um diese Manöver und der lang verzögerte Truppenabzug nicht so ohne weiteres als Feindpropaganda abtun. Hatte das militärische Eingreifen der Sowjets in Ungarn für Jahre das Moskauer Ansehen geschädigt, so kalkulierte man im Juli 1968 nicht ein, daß auch schon ein offenes Tauziehen um ein solches Eingreifen ein Prestigeverlust für die Sowjets bringen müsse.
An sich begannen die Manöver un- dramatisch, denn erstens war das Operationsgebiet keinesfalls die Tschechoslowakei allein, sondern neben der DDR und Ungarn auch die Sowjetunion. Zweitens war nur eine kleine Zahl sogenannter „Markierungseinheiten“ vorgesehen, die allerdings von den Polen, Ungarn und vor allem von den Sowjets gestellt wurden. Ihre Zahl wurde ursprünglich als unbedeutend bezeichnet. Neben sowjetischen Panzereinheiten soll es sich um zwei motorisierte Schützenregimenter, nach anderen Angaben allerdings um 27.000 Mann sowjetischer Einheiten gehandelt haben, also eine Zahl, die zumindest für den Anfang gelangt hätte, in internen Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Übungen standen unter der Leitung von Sowjetmarschall Jakubowski — der nicht gerade als Freund der Tschecho-Slowakei bezeichnet wird — und wurden zwischen 20. und 30. Juni abgeführt. Eine Woche nach Abschluß der Manöver wurde die Bevölkerung nervös, nachdem die Sowjettruppen die Tschechoslowakei noch immer nicht verlassen hatten.
Die Situation spitzte sich vor allem am 10. und 11. Juli und dann nochmals am Sonntag, dem 14. Juli, zu. Zwar gab die tschechische Nachrichtenagentur ÖTK bekannt, daß erst zwischen 2. und 5. Juli eine Analyse der Manöverergebnisse erfolgt sei, an der neben rund 200 Generälen und hohen Offizieren von tschechoslowakischer Seite vor allem Svo- boda, Duböek, Cemik, Smrkovsky und Dzur teilgenommen hätten („Beim besten Willen war für Journalisten kein Platz“, erklärte der tschechische Befehlshaber General Cepicky).
Aber schon am 1. Juli hatte der Prager Verteidigungsminister erklärt, daß die ausländischen Truppen „demnächst“ das Gebiet der Tschechoslowakei verlassen würden. Die Meldung der Moskauer „Prawda“ über das Manöverende wurde von der Sowjetagentur TASS in auffallender Weise zurückgezogen, was wieder eine Fülle von Gerüchten auslöste, nicht zuletzt die, daß Sowjetmarschall Jakubowski seine Truppen bis zum Septemberparteitag der KPTsch in der Tschechoslowakei belasse. Zahlreiche tschechische Betriebsorganisationen, etwa die der Witkowitzer Eisen- und Stahlwerke, forderten gleichzeitig den sofortigen Abzug der Sowjet truppen, insgesamt wahrten aber die Tschechen sichtbare Disziplin und die neue Führung zeigte in dem mehrwöchigen Nervenkrieg gute Nerven. Dann wurde neuerlich erklärt, die Truppen hätten noch Reparaturarbeiten durchzuführen (die allerdings länger gedauert hätten als die Manöver selbst). Schließlich waren aber die Meinungsverschiedenheiten zwischen Prag und Moskau hinsichtlich des Truppenabzuges und der hinhaltenden Taktik der Sowjets beim Truppenabzug nicht mehr hinwegzudiskutieren.
Am 11. Juli erklärte schließlich, zu einer Stellungnahme gedrängt, der Prager Verteidigungsminister Dzur:
• Es ist unwahr, daß neue sowjetische Truppen, die normalerweise nicht auf dem Boden der Tschechoslowakei stationiert sind, tschechischen Boden betreten haben.
• Mit den Verbündeten wurde ein Zeitplan über den Abtransport der Truppen ausgearbeitet.
• Es liegt nun bei den Verbündeten, diesen Plan einzuhalten.
Aber schon fünf Tage vorher, am 6. Juli, hatte Parlamentspräsident Smrkovsky erklärt:
• Nach der Manöverkritik haben sich die Spitzenpersönlichkeiten der Tschechoslowakei von allen ausländischen Armee-Einheiten verabschiedet, die nun in ihre Heimat zurückkehren.
Am 11. Juli erklärte der Prager Regierungssprecher:
• Die ausländischen Truppen werden am 13. Juli — also zwei Wochen nach Manöverende! — mit dem Abzug beginnen.
Am 14. Juli, am Tag des Zusammentritts des kleinen „Ostblock- Gipfels“ in Warschau, stockte der Abzug neuerlich. Offizielle Begründung: starker Wochenendverkehr.
Am 16. Juli schließlich, unmittelbar nach Bekanntwerden der Warschauer Gespräche, stellte Prag Moskau ein Ultimatum, die Sowjet truppen sofort aus dem Gebiet der Tschechoslowakei abzuziehen, was zögernd geschah. Schon vorher waren allerdings starke Truppenkonzentrationen in der Sowjetunion nahe der slowakischen Grenze gemeldet worden.
In einem Pressegespräch in Prag erklärte der tschechische Generalleutnant Prchlik, Leiter der VIII. Abteilung des ZK der KPTsch, nur der Sowjetmarschall Jakubowski wisse, wieviel sowjetische Truppen sich tatsächlich in der Tschechoslowakei befänden. In Prag wurden folgende Einheiten vermutet: 16.000 sowjetische Soldaten, 20 Hubschrauber, 40 Verbindungsflugzeuge, ein MIG- Geschwader, ein Einsatzgeschwader, Stäbe von je zwei Armee- und Divisionskommandos sowie weitere Spezialeinheiten.
Gleichzeitig mit dem Ultimatum forderte Prag eine Änderung im Warschauer Pakt, bei dem das Militärische den Vorrang vor dem Politischen haben müsse, bei dem eine Gleichstellung aller Mitgliedsstaaten sichergestellt sei, ferner daß eine Garantie eingebaut werden müsse, die es einer Gruppe von Mitgliedsstaaten unmöglich macht, gegen andere Gruppen oder ein einzelnes Mitglied vorzugehen. Schließlich wird von Prag eine Garantieerklärung gegen jede Verletzung der Souveränität gefordert.
Was nach dieser Vielfalt militärischer Drohungen und Aktionen zurückblieb, war ein noch bitterer Beigeschmack zu der bisher so oft gepriesenen Freundschaft mit der Sowjetunion und einigen der Ostblockstaaten. Die Prager Gewerkschaftszeitung „Prace“, die sich in diesen Tagen am meisten engagiert hatte, stellte die Frage: „Wovon wollen uns die Sowjets jetzt befreien? Vielleicht von uns selbst?“ Und die Zeitung erklärte weiter: „Die vollkommene antisowjetische Propaganda besteht jetzt in der Tatsache, daß sich sowjetische Truppen auf unserem Gebiet befinden.“
Die nackte Drohung
Ähnlich spektakulär, wenn auch für Prag ungefährlicher, war in all diesen Krisensituationen der tschechisch-sowjetischen Beziehungen das Verhalten der osteuropäischen Bruderparteien, ihre eigenen Initiativen (vor allem die Ostdeutschlands und Polens) und die auf Moskauer Betreiben durchgeführten Maßnahmen. Die geringe Einheitlichkeit der Meinungen verhinderte vorerst allerdings jede Durchschlagskraft, mehr noch: Prag konnte durch gezielte Entlastungsbesuche bei Gleich- und Ähnlichgesinnten viele Sympathien wecken, die übrigens gar nicht so eigennützig waren, sah man doch vor allem in Belgrad und Bukarest, vielleicht auch in Budapest in den Prager Bemühungen die Chance einer Stärkung der eigenen Position. Bezeichnenderweise fanden auch alle drei Ostgipfeltreffen, die sich zwischen Mai und Juli mit der Lage in der Tschechoslowakei befaßten, im nördlichen Bereich der Ostblockregion, in Dresden, Moskau und schließlich in Warschau statt, die letzten beiden ohne Rumänien und
Tschechoslowakei, alle drei natürlich auch ohne Jugoslawien.
Kurz vor dem Moskauer Gipfeltreffen hatte Prags KP-Chef Dubcek Moskau einen Besuch abgestattet, worüber ein elf Zeilen kurzes, nichtssagendes Kommunique erlassen wurde. Im Rahmen der Prager Gegenaktionen besuchte Außenminister Hajek nach Moskau auch noch Bukarest und Sofia; der jugoslawische Außenminister war als erster prominenter Gast der neuen Führungsgruppe in Prag. Prag selbst legte besonderen Wert auf gute Kontakte mit Budapest. Bezeichnenderweise aber erfolgte Breschnjews große gegen Prag gerichtete Attacke auf einem sowjetisch-ungarischen Freundschaftstreffen in Moskau und stellte vielleicht gleichzeitig eine Drohung gegenüber Budapest dar.
Unmittelbar vor dem Warschauer Gipfeltreffen — und gekoppelt mit den Warschauer-Pakt-Manövern — kam es schließlich zu dem organisierten Briefeschreiben der Bruderparteien aus Ost-Berl’in, Warschau, Moskau, Sofia und Budapest an die Prager KP, die zwar ziemlich geschickt antwortete (Prag wird gern in bilateralen Gesprächen allen Bruderparteien über die Entwicklung in der Tschechoslowakei Rede und Antwort stehen), aber das Warschauer Gipfeltreffen nicht verhindern konnte. Prag erklärte in seinem Antwortschreiben allerdings auch, daß es „den Gedankenaustausch zwischen den Bruderparteien begrüße, sofern er dem Prinzip der Selbständigkeit der einzelnen Parteien in der Behandlung von Fragen der eigenen Innenpolitik“ gerecht werde.