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Tschechische Infektion

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Zwei 19jährige Sowjetsoldaten, Jegorow und Petrow, haben mit ihrem abenteuerlichen Versuch, sich mit einem Panzerspähwagen von ihrer Garnisonsstadt Olmütz in Nordmähren nach Österreich durchzuschlagen, wieder die westliche Öffentlichkeit auf die 90.000 Mann zählende sowjetische Besatzungsmacht in der Tschechoslowakei aufmerksam gemacht. Uber das Schicksal der zwei Flüchtlinge ist nichts bekannt. Nach unbestätigten Berichten wurden sie in einem Schnellverfahren des Militärgerichtes in der Porkop-Holy-Kaserne in Olmütz als Deserteure zum Tod verurteilt und erschossen.

Wie aber leben die sowjetischen Soldaten in der Tschechoslowakei wirklich? Die offizielle tschechische und slowakische Presse gibt darüber fast keine Auskunft. Man versucht, so wenig wie möglich die Tschechen und Slowaken darauf aufmerksam zu machen, daß sie in einem von fremdem Militär besetzten Land leben. Aber auch die sowjetischen Soldaten haben strikte Anweisung, mit den Einheimischen keine engeren Kontakte zu unterhalten. Nur die Offiziere haben ab und zu die Möglichkeit, mit der Bevölkerung zu sprechen. Das Thema der Gespräche ist vor allem der Lebensstandard in der Tschechoslowakei, der trotz vieler Engpässe wesentlich höher ist als in der Sowjetunion. So erklärte ein sowjetischer Offizier in einem Gespräch mit einem Prager wörtlich: „Wir haben die Vereinigten Staaten zwar in vielen Bereichen schon überholt, aber ihr seid viel weiter als Amerika.“ Auf die Frage, wie er zu dieser Feststellung komme, antwortete der sowjetische Offizier, daß er in der CSSR nun schon mehr als zwei Jahre stationiert sei und gesehen habe, um wieviel man da mehr kaufen könne als in Moskau oder Leningrad.

Alles deutet darauf hin, daß die Sowjets nicht mit einem baldigen Abzug ihrer Truppen aus der CSSR rechnen. So werden in Olmütz zwei moderne Hochhäuser mit Wohnungen für sowjetische Offiziersfamilien gebaut. Vor kurzem wurde hier auch eine sowjetische Schule eröffnet. Häuser werden in der mittelböhmischen Stadt Mladä Boleslav (Jung-bunzlau) gebaut und eine Empörung unter tschechischen Offizieren im nordböhmischen Trautenau war die Ursache, daß sie ihre Einfamilienhäuser in der Nähe der Kaserne räumen mußten, in die nun sowjetische Offiziere mit Familien einziehen werden. Aber auch sowjetische Erholungshelme und Krankenhäuser entstehen in der CSSR. So mußten zwei Sanatorien für Lungenkranke — in der Nähe von Prag und in der Hohen Tatra — geräumt werden, weil sie von den Sowjets als Krankenhäuser für Soldaten und Offiziere gebraucht werden.

Ab und zu werden sowjetische Soldaten als Arbeiter in Betrieben eingesetzt, die einen Großteil ihrer Produktion in die Sowjetunion liefern. Sowjetische Arbeitskommandos trifft man in der bekannten Autofabrik Skoda in Jungbunzlau oder in der Röhrenfabrik von Komotau. Aber auch hier wird alles unternommen, um den Soldaten keine Gelegenheit zu geben, sich mit tschechischen Arbeitern privat zu treffen und zu diskutieren. Die Sowjets dürfen ihre „Kollektivbrigade“ nicht verlassen und nach zwei Monaten werden sie durch andere Gruppen abgelöst.

SHI Trotz dieser Maßnahmen versuchen sie, mit den Arbeitern Kontakt aufzunehmen, oft auch nur darum, um mit ihnen „Geschäfte“ zu machen. Sie bieten Autozubehör oder Benzin zum Kauf an und verlangen dafür Nylonhemden oder Schuhe.

Trotz der vielgepriesenen „Konsolidierung“ gibt die Bevölkerung den Sowjets immer wieder zu erkennen, daß sie im Lande unerwünscht sind. So empörte sich die dogmatische KP-Wochenzeitung „Tribuna“ darüber, daß in Restaurants die sowjetischen Offiziere schlecht oder überhaupt nicht bedient würden. Auch in Prager Geschäften kam es angeblich schon vor, daß Verkäufer die Bedienung sowjetischer Soldaten mit der Begründung, sie verstünden nicht Russisch, ablehnten. Charakteristisch ist auch ein Vorfall, der als „abstoßend“ von der „Tribuna“ erwähnt wurde: Ein etwa zehnjähriger Junge ging mit seinem Großvater spazieren und traf zwei sowjetische Offiziere. Der Junge fragte: „Darf ich sie jetzt grüßen? Wir sind ja außerhalb der Stadt und niemand von meinen Schulkameraden und auch kein Lehrer kann es sehen ...“

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