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Die verspielte Außenpolitik

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Schon am Dienstag, den 17. März, meldete Radio Prag überraschenderweise, daß die Bundesrepublik nunmehr die DDR anerkennen werde. Die verblüfften Hörer in der CSSR konnten sich aber in den Abendnachrichten aus Westdeutschland davon überzeugen, daß hier ein Übersoll an Linientreue geleistet worden war. Im übrigen interessiert die Menschen hierzulande die Weltausstellung in Osaka und der Eishockeykampf gegen die UdSSR um ein Bedeutendes mehr als die Gretchenfrage, welche Willi Stoph dem Rundeskanzler gestellt hat.

Seit Husäk die Weichen der Politik wieder radikal auf Ostkurs legte, sind die gerade erst errungenen Ansätze einer eigenen Außenpolitik für die CSSR restlos verspielt. Das allerdings interessiert und verbittert die Menschen von Prag bis Bratislava aufs lebhafteste. Während Ungarn, Rumänien und oft genug auch Polen in der Beurteilung des Westens wesentlich differenzierter vorgehen — die Zeitungen dieser Länder gelten oft bereits als Informationsersatz für Rüde Prävo, schilt die eigene Presse lauthals wie eh und je über die Kapitalisten, Neokolonialisten und Imperialisten. Die Vorgänge in Rhodesien, in ihren Details kaum jemandem bekannt, werden zum Monsterfall kolonialistischer Ausbeutung aufgebauscht, die armen Araber können sich vor den bösen Israelis bald nicht mehr retten, und die Wahlniederlage der Kommunisten in Österreich ist in erster Linie Schuld des von der „herrschenden Klasse“ ausgeheckten Wahlrechts. Hinter jedem Übel aber auf der Welt steht, wenn nicht gleich die USA, so doch ihr angeblich treuester Satellit, die Bundesrepublik. Obwohl Prag ohne viel Federlesens die 7,5 Millionen DM für die Opfer medizinischer Versuche in den KZs einkassierte und statt dessen schlechte Kronen auszahlte; obwohl die einheimischen Jäger von jedem einigermaßen jagdbaren Wild zugunsten der Menschen aus den „kapitalistischen“ Ländern ferngehalten werden, die dafür horrende Abschußprämien bezahlen müssen; obwohl die Fabriken genau wissen, daß nur erste Ware in den Westen geliefert werden darf, während die eigenen Bürger beispielsweise sechs Tassen und Untertassen, zu Weihnachten für 400 Kronen gekauft, zu Ostern jetzt bereits ihren Gästen nicht mehr vorsetzen können. Obwohl, obwohl — es nähme Seiten in Anspruch, die Ungereimtheiten aufzuzählen, welche dem permanenten Scheltlied auf den Westen die Melodie verderben. Wochen der Freundschaft mit der UdSSR, der DDR, den Volksrepubliken Polen und Bulgarien lösen einander ab. Was dabei allenfalls interessiert, sind Ferienanschriften — im Desinteresse an der offiziellen Politik ist man sich mit den gleichfalls kommandierten Delegierten der anderen Länder rasch einig. Nirgends wird so wenig politisiert wie in den sozialistischen Staaten. Die innere Emigration ist komplett.

München—Prag ohne Umsteigen

Die Begeisterung, die dem deutschen Bundeskanzler in Erfurt entgegenschlug, hat die Menschen allerdings hier aufs tiefste bewegt. Als Chruschtschow, ein Jahr vor seinem Sturz, die CSSR besuchte, erlebte er ähnliches: Zehntausende standen zum erstenmal in ihrem Leben freiwillig Spalier, überschütteten den offenen Wagen mit Blumensträußen — der bessere Russe wurde triumphal wie ein Befreier gefeiert, während Novotny mit verklemmtem Lächeln danebensaß. Ein Besuch Nixons in der CSSR, nach dem Muster seines Bukarester Aufenthaltes, hätte ungeahnte Folgen gehabt, und ein deutscher Bundeskanzler würde mit Sicherheit Ovationen bekommen, die sich bisher kein Politiker träumen ließ. Mit Beginn des Sommerfahrplans werden zum erstenmal seit Ende des zweiten Weltkriegs direkte Schnellzüge zwischen Prag und München verkehren. In acht Stunden kann der Reisende aus Prag, sofern er zu den glücklichen und immer selteneren Besitzern eines Visums gehört, in der Stadt sein, deren Name von den Offiziellen noch immer als Menetekel der CSSR-Außenpolitik genannt wird. Kein Mensch glaubt aber hier daran, daß mit der Annulierung des Münchner Abkommens von 1938 Prags Außenpolitik auch nur einen Schritt weiter sich dem Westen nähern würde. Die Präsenz der Russen und ihrer Schrittmacher auf dem Hradschin sorgt dafür.

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