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Der Rabe krächzt

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In der Tschechoslowakei, wo sonst der politische Witz die Volksreaktion auf schlechte Zeiten ist, scheint den Leuten jetzt der Humor vergangen zu sein. Erklärung dafür findet man in einem derzeit kursierenden Witz: Ein Rabe sitzt auf einem Baum, ein Stück Brot im Schnabel — Käse gibt es gerade nicht. Traditionsgemäß erscheint der Fuchs und lobt des Raben Stimme. Der Vogel aber kennt seinen La Fontaine. Er klemmt das Brot unter den Flügel und beginnt dann erst zu krächzen. Der Fuchs macht einen zweiten Versuch: „Ich habe gehört“, sagt er, „Sie könnten wunderbar fliegen, Herr Rabe!“ Der Rabe dreht ein paar Runden, nimmt aber zuvor das Brot wieder in den Schnabel. Plötzlich sagt der Fuchs: „Wissen Sie, daß das ganze Volk für die Politik der Partei begeistert ist?“ Der Rabe lacht laut auf, der Fuchs fängt das fallende Stück Brot. — Moral: Wer über die Politik der Partei lacht, verliert sein Brot.

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In der Tschechoslowakei, wo sonst der politische Witz die Volksreaktion auf schlechte Zeiten ist, scheint den Leuten jetzt der Humor vergangen zu sein. Erklärung dafür findet man in einem derzeit kursierenden Witz: Ein Rabe sitzt auf einem Baum, ein Stück Brot im Schnabel — Käse gibt es gerade nicht. Traditionsgemäß erscheint der Fuchs und lobt des Raben Stimme. Der Vogel aber kennt seinen La Fontaine. Er klemmt das Brot unter den Flügel und beginnt dann erst zu krächzen. Der Fuchs macht einen zweiten Versuch: „Ich habe gehört“, sagt er, „Sie könnten wunderbar fliegen, Herr Rabe!“ Der Rabe dreht ein paar Runden, nimmt aber zuvor das Brot wieder in den Schnabel. Plötzlich sagt der Fuchs: „Wissen Sie, daß das ganze Volk für die Politik der Partei begeistert ist?“ Der Rabe lacht laut auf, der Fuchs fängt das fallende Stück Brot. — Moral: Wer über die Politik der Partei lacht, verliert sein Brot.

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Dieser Witz mag nach vier Jahren sowjetischer Okkupation die Situation der Tschechoslowakei angemessen widerspiegeln. Eine Situation, die im Vergleich mit anderen sozialistischen Ländern paradox ist — oder doch auch wieder nicht.

Läßt die DDR zur Zeit eine gewaltige Amnestie vom Stapel, so sitzen viele politische Häftlinge in der CSSR, darunter die Professoren Hübl und Sabata, jetzt erst einmal ihre Strafen richtig ab. Weht in einigen Ländern, wie in Ungarn, heute ein liberaler Wind, so muß man in der CSSR wohl von abgrundtiefer kulturpolitischer Reaktion sprechen. Ob die im Westen so gerne benutzte Formel vom „Biafra der Intellektuellen“ sich inzwischen abgenützt hat, müßte ein Besuch im Lande selbst erweisen. Aber viel lieber weist man in der Tschechoslowakei Journalisten aus, als daß man welche hereinließe. Das Beispiel des „Unitä“-Korrespondenten Zidär spricht da eine beredte Sprache.

Daß es mit der staatlich verordneten Normalisierung offenbar immer noch nicht so recht klappt, illustriert ein Artikel des Direktors des Slowakischen Rundfunks, M. Marko, in der Moskauer „Prawda“ vom 19. Oktober. Nach einigen stereotypen Angriffen auf Vertreter des sogenannten Prager Frühlings — namentlich Vaclav Cerny, Eduard Goldstücker, Antonin Liehm, Eugen Löbl, Pavel Kohout, Ludvik Vaculik und Arnost Lustig — schreibt Marko fast selbstkritisch, daß die bereits erzielten Erfolge gegen die Verbündeten der Bourgeoisie „jedoch nicht über unsere schwachen Seiten... hinwegtäuschen“ dürften und daß „wir noch keineswegs einen vollen Sieg über die Überreste der bürgerlichen Ideologie errungen haben.“

Will man der Tschechoslowakei von heute gerecht werden, läßt sich ein Hinweis auf die politischen Prozesse nicht vermeiden. Ein Thema, das kürzlich auch im Mittelpunkt eines großen Meetings der Pariser Mutualite stand. Das „Komitee des 5. Jänner“, das die politischen Häftlinge und deren Familien in der CSSR unterstützt, hatte zu einer Protestveranstaltung eingeladen, an der nahezu alle französischen Linkskräfte — mit Ausnahme der offiziellen Kommunistischen Partei — teilnahmen.

Den stärksten Beifall erhielten die tschechischen Teilnehmer Jifi Pelikan und Jan Sling, der Sohn des in den fünfziger Jahren hingerichteten Brünner Parteisekretärs Ota Sling. Der heute in London lebende, zwangsemigrierte junge Sling berichtete von seiner eigenen Inhaftierung zu Beginn dieses Jahres und verwies mit Nachdruck darauf, daß Proteste und Druck aus den Westen in Richtung Osten nützlich seien und das Schicksal der politischen Häftlinge in Prag, Brünn und Bratislava positiv beeinflussen könnten.

Ähnlich argumentierte auch der italienische Journalist Valerio Occhetto, der Anfang dieses Jahres auf dem Prager Flughafen freigelassen, als Verbindungsmann zwischen Hübl und Pelikan fungieren sollte, wie es Geheimdienst und Justiz in Prag vorhatten. Zum Prozeß gegen

Occhetto kam es nicht. Vermutlich scheuten die Tschechen die Verschlechterung der Beziehungen Prags zu Rom, zumal die Pressekampagne in Italien zugunsten des inhaftierten Occhetto sehr stark war. Der heute wohl wichtigste Mann der tschechoslowakischen sozialistischen Opposition im Ausland ist mittlerweile Jifi Pelikan, ehemaliger Direktor des Tschechoslowakischen Rundfunks und einst ZK-Mitglied der Partei, jetzt Herausgeber der im Rom erscheinenden „Listy“. Pelikan, ein moderner Willi Münzenberg, ist heute der gefährlichste Kritiker des Husäk-Regimes. Im Wiener Europa-Verlag hat er bereits drei hochbrisante Bücher veröffentlicht:

„Panzer überrollen den Parteitag“ (gemeint ist der legale 14. Parteitag der KPC am 22. August 1968), ferner „Das unterdrückte Dossier“, der Bericht einer Kommission des ZK der KPC über politische Prozesse und Rehabilitierungen in der Tschechoslowakei während der Jahre 1949 bis 1968. Und das vielleicht bestürzend-ste Zeugnis über die politischen Morde und Verbrechen in der CSSR zwischen 1949 und 1963, kürzlich unter dem Titel „Pervertierte Justiz“ in Wien erschienen.

Die Aktivität der Exiltschechen ist beeindruckend. Drei Exilverlage entstanden in den letzten Jahren in Köln, München und Toronto; letzterer wird von Josef Skvorecky geleitet, dessen bei Luchterhand erschienener Roman „Die Löwin“ jetzt auch von Gallimard auf Französisch herausgebracht wird. Neben den Verlagen existiert eine stattliche Anzahl von Zeitschriften in tschechischer und slowakischer Sprache, die in Paris, Rom, München und in der Schweiz redigiert und vermutlich auch in der CSSR heimlich gelesen werden.

Daß die Aktivitäten der Exiltschechen nicht immer auf Gegenliebe stoßen, konnte man kürzlich einem Kommentar der Zürcher „Weltwoche“ entnehmen. Andre Rupp nimmt dort Anstoß an dem folgenden Satz einer Tschechin, die im Schweizer Exil lebt: „Was uns am meisten in diesem Lande fehlt, das ist das lebendige Kulturleben, an das wir gewöhnt waren... In der Straßenbahn und im Bus sehe ich niemanden ein Buch lesen.“

In der Schweiz leben heute rund 12.000 Tschechen und Slowaken — keine geringe Belastung für dieses kleine Land, das auf Kritik offenbar empfindlich reagiert.

Hervorzuheben sind einige bundesdeutsche Verlage, die erfreulicherweise den durch politische Konjunktur verursachten modischen Trend bei der Edition der schwer verkäuflichen tschechischen Literatur nicht mitgemacht haben. Der Bitter-Verlag in Recklinghausen betreut vorbildlich das Oeuvre des vor einiger Zeit gestorbenen Jan Prochäzka. Dessen Kinderbuch „Jitka“ ist die jüngste Produktion von Bitter. Auch die Münchner Verlage Ehrenwirth und Langen-Müller haben tschechische Autoren in ihrem Programm: „Held zwischen zwei Stühlen“ von Jan Martinec und „Die Wetterfahne, Beichte eines braven Mannes“ von Vladimir Neff.

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