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Prager Dramaturgie

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Der übereilt einberufene 14. Parteikongreß der KPTsch ist ohne Störung und Sensation über die Prager Szene gegangen. Die Moskauer „Prawda“ konnte von einem „Triumph der sozialistischen Idee“ schreiben.

Husäk vermeldete in seinem Hauptreferat den Abschluß der „Normalisierung“ im Lande und strafte die Mißdeuter und Schwarzseher Lügen, die behauptet hatten, er hätte Duböeks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durch „Terror mit menschlichem Antlitz“ ersetzt.

Normalisierung der Situation? Die Jugend steht abseits, die Stimmung im Volk reicht von Gleichgültigkeit über Abneigung, Verachtung bis zum offenen Haß. Dem bis zum Überdruß eingehämmerten offiziellen Schlagwort: „Wie wir heute arbeiten, so werden wir morgen leben!“ steht die fast anarchistische Losung gegen den Staat und seine rücksichtslose Arbeitsgesetzgebung gegenüber: „Wer nicht stiehlt, beraubt seine Familie!“ Svoboda und Husäk waren anfangs in weiten Kreisen akzeptiert worden. Der „Held der Sowjetunion“, Ludvik Svoboda, hatte in den kritischen Augusttagen 1968 in Moskau immerhin persönlichen Mut bewiesen, als er sich der drohenden Liquidierung der auf emiedrigenste Weise deportierten Regierungsmitglieder mit Duböek an der Spitze widersetzte. Wie sehr inzwischen seine Popularität wegen seiner Nachgiebigkeit, um nicht zu sagen Rückgratlosigkeit, gesunken ist, mag eine Episode am Rande verdeutlichen: Svoboda, der sich zur Kur in Franzensbad aufhielt, ging zu Fuß über die Kolonade. Spontan wechselten Kurgäste auf den gegenüberliegenden Gehsteig, um „ihren Präsidenten“ nicht grüßen zu müssen.

Husäk galt lange als das „kleinere Übel“, der Schlimmeres verhüten sollte. Inzwischen hat man nur zu gut erkannt, wie er unter Verleugnung aller seiner früheren Grundsätze und Ansichten einem eiskalten Opportunismus auf dem Weg zur Sicherung seiner Machtposition verfolgt, nachdem er alle die, welche ihm zur Rückkehr in die Politik verholten hatten, kaltstellen oder diskreditieren ließ.

Abneigung bis zum Haß gilt den fremden Besatzern. Der Jubel der Mitglieder des ZK zum Abschluß des Kongresses über die „Freundschaft mit der Sowjetunion für ewige Zeiten“ kann über nichts hinwegtäuschen: auch nicht über die Absicht der Okkupanten, so seßhaft wie nur möglich zu werden, was schon ihre energischen Forderungen nach Wohn- raum für russische Familien, nach Schulen, Kulturhäusern und ähnlichem mehr bezeugen.

Die Zensur ist nicht auf die Presse allein beschränkt, sie greift auch auf Theater und Film über. Wie sehr der 14. Parteikongreß im 50. Jubeljahr seine Schatten monatelang vorauswarf, zeigten die geradezu grotesken Vorfälle um den Spielplan des Prager Nationaltheaters. Anders nämlich als in jedem freien Land reagiert das hellhörige Prager Publikum auf den Bühnentext und konfrontiert ihn mit der heutigen Realität im Lande, um durch demonstrativen Beifall seine Meinung und Ablehnung kundzutun. Als bei der „Mutter Courage“ der Brechtsche Text eindeutig gegen das Regime und die Okkupanten interpretiert werden konnte und an die zwanzigmal bei offener Szene applaudiert wurde, galt es, der „Provokation“ im Zuschauerraum zu begegnen.

Nach langen Beratungen ordnete die Direktion des Nationaltheafers Striche im Text an.

Man ist ängstlich geworden, fordert die ideologische Überprüfung jedes aufzuführenden Stückes, die Begutachtung jeder Neuinszenierung knapp vor der Premiere durch eine Sonderkommission des ZK der Partei, die entscheiden soll, ob die Aufführung überhaupt stattfinden kann. Außer Strichen in Brechts „Mutter Courage“ mußten solche kürzlich auch bei zwei weiteren Repertoirestücken umgehend vorgenommen werden: In Anouilhs „Beckett oder Die Ehre Gottes“ und in Christopher Freys „Die Dame ist nicht fürs Feuer“. Schlimmer war der sofortige Abbruch der Proben von Alexander Gribojedows gesellschaftskritischer Komödie „Verstand schafft Leiden“ (nomen est omen), obwohl die Premiere bereits auf den Theaterplakaten öffentlich angekündigt war. Man fürchtete anscheinend den zutiefst humanistischen Gehalt im Stück des russischen Klassikers. Mit Rücksicht auf den Parteikongreß wurde der gesamte dramaturgische Plan der laufenden Saison umgearbeitet und unter anderem ein kubanisches Stück abgesetzt.

Alles das trägt zu jenem Zustand kultureller Agonie bei, den der französische kommunistische Schriftsteller Louis Aragon, der wie so viele die sowjetische Invasion verurteilt hat, mit dem Ausdruck „geistiges Biafra“ charakterisieren wollte. Darunter fallen auch die Anweisungen und Verbotslisten der staatlichen Zentrale für Buchkultur in Prag, die auf Grund der Richtlinien des Sekretariats des ZK der KPTsch ausgearbeitet wurden. Sie enthalten u. a. die Namen der oppositionellen Schriftsteller und aller jener, die aus der Partei ausgeschlossen wurden. Ferner eine umfangreiche Liste von Büchern, die vor oder während der Herstellung auf den Index kamen. Sie reicht von Sachbüchern (z. B. der Aufgabe der Finanzierungsmittel in der sozialistischen Landwirtschaft) über unerwünschte Retrospektiven (z. B. Pekär/Gestalten und Probleme der tschechischen Geschichte, Tschechische Literatur 1918—1945) bis zur Dichtung (z. B. Hölderlin, Endymion, Durych, Gotische Rose) und zur modernen Romanprosa. Der finanzielle Schaden aus all den Verboten beläuft sich auf viele Millionen.

Nichts könnte die politische, wirtschaftliche, ideelle und kulturelle Diktatur schärfer charakterisieren als der Brief, den der Dekan der philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag an Dr. Gustav Husäk gerichtet hat. Darin teilt der Schreiber dem ersten Mann in der Partei, ja im Staate mit, daß er, seiner Stellung an der Karlsuniversität enthoben, nunmehr so wie Dutzende, ja hunderte seiner Kollegen vergebens eine Beschäftigung gesucht habe, die seiner Befähigung entsprochen hätte. Da er physisch für eine Schwerarbeit nicht mehr in Frage komme, werde er die Stelle eines Leichenwäschers annehmen. Er habe diese Arbeit jahrelang im Konzentrationslager Mauthausen verrichtet, so daß sie ihm auch in psychischer Hinsicht keineswegs schwer ankomme. Er bitte nur, seine Zeilen nicht als politische Demonstration, sondern als Lebensnotwendigkeit aufzufassen. Ob Dr. Husäk diesen Brief, der aus den Regionen des sprichwörtlichen Schwejks an die des schwarzen Humors shakespearischer Totengräberszenen grenzt, auch der „Normalisierung“ zurechnen wird?

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