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Wie ein Telephonbuch

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Der 21. August 1968 gilt als historisches Datum für die (neuerliche) Zerstörung der tschechischen und slowakischen Kulturen. Heute, nach vier Jahren, sind die Schäden immer noch nicht abzusehen. Die gegenwärtigen Prozesse lassen sogar vermuten, daß die Intelligenz in der CSSR, die in scharfer Opposition zum Hu-säk-Regime steht, physisch lahmgelegt werden soll. Antiintellektua-lismus und Antisemitismus (vor einiger Zeit) spielen dabei keine untergeordnete Rolle. Kurz: das „Biafra der Intellektuellen“ (Aragon) und der „geistige Völkermord“ (Eugen Löbl kürzlich in „Le monde“) lassen noch kein Ende erkennen.

Was hat das Husäk-Regime in den vier Jahren, genauer: seit dem Mai 1969, durch administrativen Zwang erreicht? Alle Künstler verbände in

Böhmen und Mähren wurden liquidiert und durch neue, regimetreue ersetzt. Der Tschechische bzw. Tschechoslowakische Schriftstellerverband Ceskoslovensky spisovatel wurde sogar enteignet: alle Einrichtungen (Verlag, Zeitschriften, Erholungsheime, Literaturfonds) unterstellte man dem Kulturministerium, das nun dem Kozäk-Marionettenverein, der als gesäuberter neuer tschechischer Schriftstellerverband Anfang Juni gegründet wurde, wieder „trauen“ darf.

Weniger an gutem Willen, mit der Potenz hapert es noch: das neue Verbandsorgan „Literärni mesic-nik“ (Chefredakteur Rudolf Kalcik) wird nach langem Hin und Her erst im September erscheinen, nachdem es im Mai keine Beiträge vorzuweisen hatte. Die Auflage soll 30.000 betragen. — Die liquidierten „Listy“ (vormals Literärni listy) druckten in ihrer besten Zeit rund 300.000 Exemplare. Liquidiert wurden nach dem Sturz Dubceks noch etwa 30 andere Literaturzeitschriften („Host do domu“, „Plamen“, „Universum“, „Se-sity“).

In der Slowakei differierten die kulturpolitischen Auseinandersetzungen stets von denen Prags. Dort ging alles „eleganter“, langsamer, mit viel Zureden vonstatten. Eine Zeitlang konnten die Prager und Brünner Kollegen sogar in den slowakischen Zeitschriften publizieren. Die slowakischen Künstlerverbände mußten nicht liquidiert werden, sondern wurden reorganisiert, natürlich gleichfalls gesäubert. Die literarische Avantgarde ließ man in Bratislava hin und wieder gewähren. Es darf jedoch angenommen werden, daß die progressive Gruppe um „Kulturny zivot“ (später Literarny zivot) heute ausnahmslos Publikationsverbot hat — wie alle 1968 engagierten Literaten in der CSSR von Köhout bis Sotola, von Klima bis Vaculik.

Tragödien sind auch vom tschechoslowakischen Theaterschaffen zu vermelden. Mindestens zwei Theater wurden liquidiert: Ende der Saison 70/71 das kleine avantgardistische Korso-Theater (Divadlo na korze) in Bratislava. Und Ende der letzten Spielzeit Otomar Krejcas Renommierbühne Divadlo za branou (Theater vor dem Tor). Krejca war übrigens in der Dubcek-Ära Vorsitzender des Bühnenkünstlerverbandes in Prag und hat auch das Vaculik-2000-Worte-Manifest mitunterzeichnet. In Mährisch-Ostrau verurteilte ein Gericht den Regisseur und die Schauspieler eines Ensembles, die ein Dürrenmatt-Stück vorgeblich regimefeindlich gespielt hätten, zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen.

Auch Selbstmorde

Die Tagespresse hat über die derzeitige Prozeßwelle berichtet. Hier sei nur auf die früheren Intellektuellenprozesse hingewiesen: Ota Filip, Vladimir Skutina, Jiri Lederer, Ludek Pachman und andere. Man lebt, wenn auf freiem Fuß, ständig mit der Angst, mit der drohenden Venhaftung, mit der Ungewißheit, dem Zweifel. Das zermürbt, macht krank, sogar lebensgefährlich krank (Hochmann, Kyncl), das zermartert physisch und psychisch.

Manche zogen es vor, aus dem Leben zu scheiden, sie hielten dem ständigen Druck der Partei nicht mehr stand: so die Lyriker Stanislav Neumann und Jiri Pistora. Jan Prochäzka starb an einem Krebsleiden, wie Radio Prag unermüdlich beteuerte, inmitten von Abhöranlager., was verschwiegen wurde. Prochäz-kas Begräbnis, auf dem Pavel Kohout eine ergreifende Rede hielt, wurde zum Treff der V-Männer.

Heute ist kein Schriftsteller von Rang noch Mitglied der Kommunistischen Partei. Der Hinausschmiß war für viele eine Ehrenbezeugung, manche kamen sogar zum zweitenmal in diesen Genuß.

Wie kann ein solcher Aderlaß in der CSSR verkraftet werden? Die Entwicklung ist schwer abzusehen. Die Informationsquellen sind dürftig; Kohout, Sotola, Kliment, Klima, Vaculik schreiben weiter, mit der Genugtuung, daß sie im Ausland gedruckt werden. Die „innere Emigration“ dürfte groß sein. Wer ins Ausland emigriert ist, hat es offenbar leichter. Aber verkümmert dort nicht die Sprache? Uber die Aktivitäten der drei tschechischen Exilverlage „Index“ (Köln), „CCC Books“ (München) und „68 Publishers“ (Toronto) wurde schon berichtet. Die wirklichen Auswirkungen auf das Kulturleben werden sich vermutlich erst in zehn Jahren oder später zeigen.

Die „68 Publishers“ in Toronto bringen demnächst Josef Skvoreckys neuen Roman „Miräkl“, eine Satire auf 20 Jahre CSSR-Geschichte. Erschienen sind inzwischen ferner Bücher von Jan Benes, Arnost Lustig, Jiri Voskovec und Zdena Salivarovä.

Der Kölner „Index-Verlag“ hat ausgeliefert oder angekündigt: Jiri Hochmanns „Hirschfurt“, Mnackos „Baron Münchhausen“, Werke von Gabriel Laub, Radoslav Selucky, Ka-rel Kryl, A. Ostry, Ivan Svitäk, Bo-humil Stepän, Egon Hostovsky, Julius Firt, Ladislav Grosman.

Ob diese Publikationen in die CSSR gelangen, dort gelesen werden? Ein „Gegengewicht“ scheint jedenfalls notwendig, wenn man Jiri Pelikans in Rom betreuten „Listy“ entnimmt, wen die Prager Kulturverweser alles öffentlich entfernen, eine Liste, die der NS-Reichtums-schriftkammer alle Ehre machen würde: Vaclav Cerny, Ernst Fischer, Erich Fromm, Roger Garaudy, Vaclav Havel, Karel Kosik, Milan Macho-vec, Herbert Marcuse, Karel Pecka, Milan Schulz, Ivan Svitäk, Vladimir Skutina, Teilhard de Chardin, Jean Paul Sartre.

Daneben existiert noch eine umfangreiche Liste mit einzelnen Büchertiteln, die die Prager Zensurbehörden zur Zeit verbieten. Das liest sich spannend wie ein Telephonbuch.

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