Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Verhöhnung von Helsinki
In den tschechoslowakischen Zollvorschriften wird explizit nur ein Verbot angeführt, das Verbot „in die Tschechoslowakei reinen Alkohol (Äthylalkohol) und Sachen, die Ideen propagieren, die mit den Interessen der sozialistischen Gesellschaft unvereinbar sind, einzuführen".
Eine noch vager formulierte Vorschrift ist kaum vorstellbar. Was kann das nicht alles sein! Praktisch alles.
Ist der zuständige Beamte der Meinung, daß dies oder jenes dem Sozialismus abträglich sein könnte - z. B. dadurch, daß es die Rückständigkeit auf manchen Gebieten dokumentiert -, so wird es unverzüglich als feindliches Propagandamaterial eingestuft. Um eine möglichst wirksame Kontrolle zu schaffen, werden vom Prager Regime Unsummen investiert, deren Kontrolle, wie übrigens alle öffentlichen Ausgaben, der Öffentlichkeit entzogen ist.
Die Tschechoslowakei ist aber nur scheinbar von ihrer Umwell hermetisch abgeschlossen. Die Gesellschaft, zumindest ein Teil dieser Gesellschaft, ist sich darüber im klaren, daß ohne Verbindung zur Außenwelt, ohne Informationsfluß in beide Richtungen, sie zum Tode verurteilt wäre. Darum reißt der Strom von Nachrichten, Büchern, Zeitschriften, künstlerischen Werken aller Art in und aus der Tschechoslowakei nicht ab. Auch ein Heer von Spezialisten kann diesen Strom nicht zum Versiegen bringen.
Zeitweise schweigt sich das Regime darüber aus, zeitweise verliert es die Nerven. Dieses „Nerven verlieren" wird jedoch - und das muß man wissen - sorgfältig vorbereitet und konzipiert. Der überzeugendste Beweis dafür ist die Vorbereitung der neuen Prozeßwelle gegen die sogenannten Dissidenten, unter welchen sich viele bekannte Persönlichkeiten befinden. Worum geht es in diesen Prozessen?
Im April dieses Jahres wurde an der österreichisch-tschechischen Grenze ein von Franzosen besetztes Auto aufgehalten, das nach Prag und in andere Städte der Tschechoslowakei staatsfeindliche Schriften, Bücher und Zeitschriften bringen sollte. Kurz darauf wurden an die 30 Personen in Prag, Brünn und Preßburg verhaftet. Einige von ihnen wurden staatsfeindlicher Umtriebe beschuldigt, in Kürze wird gegen sie die Anklage erhoben, und es erwartet sie ein Gerichtsverfahren.
Gegenwärtig befinden sich im Gefängnis (in Ruzyne): die Schriftstellerin Eva Kantürkovä (Jahrgang 1930), der Dichter Jaromfr Hofec (1921), der Journalist Karel Kyncl (1927), der Historiker Jan Mlynärik (1932), der Arbeiter Jan Ruml (1953) und sein Vater, der Journalist Jiff Ruml (1925), die Soziologin Jinna Siklovä (1935) und der Historiker Milan Simečka (1930).
Darüber hinaus wird gegen den früheren Außenminister Dr. Jih' Häjck (1913), den Mathematiker Ivan Havel, den Bruder des inhaftierten Vaclav Havel, gegen Olga Havlovä, die
Frau des Vaclav Havel, den Architekten Karel Holomek, gegen Professor Zdenek Jičfnsky (1929), den Journalisten und Schriftsteller Mojmfr KlaAs-ky (1921), den Philosophen Prof. Miroslav Kusy (1931) und den Historiker Jaroslav Meznik (1928), die sich noch auf freiem Fuß befinden, ermittelt.
Alle werden der sogenannten Straftat staatsfeindlicher subversiver Tätigkeit und das noch in Zusammenarbeit mit dem Ausland angeklagt.
Es wäre allerdings naiv, die Auswahl dieser Beschuldigten in direkten Zusammenhang mit dem Inhalt des beschlagnahmten französischen Wagens zu bringen. Der in Prag unter der Bezeichnung „Siklovä und Co." vorbereitete Prozeß hat es vor allem auf den sogenannten Kern der Charta 77 abgesehen, welcher anscheinend noch immer die größte potentielle Gefahr für das Regime darstellt, und darüber hinaus, wie jeder politischer Prozeß in einem totalitären Staat, die Aufgabe, jeden, der eine eigene Denkweise artikulieren möchte, einzuschüchtern.
Denn keiner der genannten Beschuldigten hat jemals Handlungen begangen, die mit den tschechoslowakischen Gesetzen oder der Verfassung unvereinbar wären. Im Gegenteil, sie taten nur das, wozu sich die Tschechoslowakei mit ihrer Unterschrift unter die Schlußakte von Helsinki verpflichtet hatte. Sie versuchten zu schreiben, frei zu schaffen und mit ihren Werken einen kleinen Kreis von Freunden zu Hause und in der Welt bekanntzumachen. Das gilt allerdings in den Augen des Prager Regimes , heute als Verbrechen, für das ein Prager Gericht gemäß vorbereitetem Szenarium Freiheitsstrafen von drei bis zehn Jahren verhängen kann.
Es ist nicht mehr so ausschlaggebend, wer von den Beschuldigten zu welchen Strafen verurteilt wird. Ausschlaggebend allein ist die Tatsache, daß dieser bevorstehende Prozeß die Tschechoslowakei wieder einmal der Lüge überführt. Nicht nur in bezug auf ihre eigenen Staatsbürger, sondern auch der Weltöffentlichkeit gegenüber.
Nach Übernahme seiner Funktion als Generalsekretär der KPTsch 1969 erklärte Gustav Husäk, daß es in der Tschechoslowakei zu keinerlei politischen Prozessen kommen werde und daß die Fragen einer eventuellen Opposition bzw. die Beziehung zu kritisch denkenden Bürgern politisch gelöst werden und nicht auf dem Wege polizeilicher und strafrechtlicher Maßnahmen. Das gleiche wiederholte einige Male auch Ministerpräsident Strougal. Entweder sie haben beide bewußt gelogen oder sie sind nicht mehr Herr der Lage.
Gegenwärtig büßen in den tschechoslowakischen Gefängnissen etwa 50 Personen für sogenannte politische Verbrechen, darunter Vaclav Havel, Jiri Dienstbier, Vaclav Benda, Petr Uhl, Rudolf Battek u. a. Der bevorstehende Prozeß soll deren Zahl erhöhen.
Kein totalitärer Staat hält sich an seine international eingegangenen Verpflichtungen, z. B. an die Schlußakte von Helsinki. Keiner verhöhnt sie aber mit solchem Zynismus und sicherer Überzeugung, daß es die Welt (z. B. der nächste Nachbarstaat) ohnehin nicht zur Kenntnis nimmt, wie die Tschechoslowakei.
Mit umso größerer Spannung wird man dem Veriauf der Verhandlungen über einen eventuellen Besuch von Husäk in Österreich entgegensehen.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Roswitha Ripota.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!