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Der Schlüssel liegt in Prag

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„Warum dürfen wir nicht leben, wo wir wollen? Warum dürfen Menschen, denen es bei uns definitiv nicht gefällt, sich nicht zum Teufel scheren? ... Ich fürchte, daß der Name unserer Republik seinen guten Klang verloren hat.“

Ludvik Vaculik

Schüsse an der Grenze sind geeignet, den Österreicher in seinem Sommerfrieden aufzustören, gleichgültig, ob diese Schüsse im Süden oder im Norden fallen. Im Norden bilden sie außerdem eine üble Begleitmusik zu jener Koexistenz, um die sich einsichtsvolle Kräfte diesseits der großen Scheidelinie der Weltanschauungen und ökonomischen Systeme, aber auch, wie wir angenommen haben und wie wir trotz der Ungunst der Stunde anzunehmen nicht müde werden, auch jenseits derselben bemühen.

Die Zwischenfälle an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze der letzten Wochen, die die österreichische Öffentlichkeit von ganz rechts bis ganz links stark bewegt haben, zeigen einen doppelten Aspekt. Zweimal wurde — das steht eindeutig fest — bei diesen Ereignissen österreichisches Hoheitsgebiet verletzt. Die Schüsse in der Mauer des Zollhauses von Gmünd dokumentieren dies ebenso eindeutig wie ein Photo, das den tödlich getroffenen ostdeutschen Flüchtling bereits am österreichischen Ufer der March zeigt Kein souveräner Staat darf eine solche Verletzung seines Territoriums geringachten. Dafür muß man nicht zuletzt in Prag die richtigen Maßstäbe haben. Hier bedarf es wohl keiner Klarstellung.

Weniger Verständnis dürfte man drüben, zumindest an offizieller Stelle, dafür haben, daß, auch wenn österreichisches Hoheitsgebiet nicht verletzt wird, tödlich getroffene und dm Angesicht der rotweißroten Grenzpfähle zusammenbrechende Menschen, unsere Bevölkerung nicht kalt lassen. „Das ist unsere Sache, das geht euch nichts an...“ So lauten dn die Sprache des Alltags übersetzt die diesbezüglichen tschechischen Kommuniques. Formaljurdstisch haben sie recht — zugegeben. Aber: abgesehen, daß hier wohl auch der sozialistische Humanismus, den man doch, so haben wir es Zumindestens gehört, in Prag anvisiert, das Haupt verhüllt, zeigt sich hier ein grundsätzlicher Unterschied in der Einstellung. Niemand kann der österreichischen Bevölkerung einreden, daß das Verlassen eines Landes aus diesem oder jenem Grund ein todeswürdiges Verbrechen ist, das man noch dazu im Angesicht von Unbeteiligten — hier der österreichischen

Nachbarn — exekutiert. Aber das ist nicht allein die einsichtslose Auffassung eines katholischen Publizisten, noch dazu im „kapitalistischem“ Ausland. Vor gar nicht so langer Zeit hat der tschechische Schriftsteller Ludvik Vaculik festgehalten: „Warum dürfen wir nicht leben, wo wir wollen? Warum dürfen Menschen, denen es bei uns definitiv nicht gefällt, sich nicht zum Teufel scheren? ... Ich fühle, daß der Name unserer Republik seinen guten Klang verloren hat.“

In der tschechoslowakischen sozialistischen Republik ist man nach der alten Devise „Reden wir von etwas anderem“ inzwischen zur propagandistischen Entlastungsoffensive angetreten. Man schiebt dort heute gerne die Schuld für die Krise in den tschechisch-österreichischen Beziehungen auf die österreichische Presse, die eine Hysterie gegen die Tschechoslowakei entfesselt habe. Wir sind so freimütig, zuzugeben, daß uns nicht alles gefallen hat, was in österreichischen Blättern als Ausdruck der Empörung, die ohne Zweifel und zu Recht im österreichischen Volk vorhanden jft, wiedergegeben wurde. Manch ein Schreiber, der nur mit halbem Herz den Weg zur Koexistenz in den letzten Jahren mitgegangen war, hörte von fern die Trompete des kalten Krieges und sattelte munter sein altes Roß. Aus dunklen Schlünden brachen sich, ähnlich wie mitunter gegen Italien, fremdenfeindliche Urlaute Bahn, die nichts mit dem Unwillen des österreichischen Volkes und seiner Regierung zu tun haben. Die Jagd nach den Sensationen des Tages kam hinzu.

Dennoch verwechselt man jenseits der Grenze eindeutig Ursache und Wirkung. Der Schlüssel dazu, ob die österreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen sich auf den bewährten Wegen der letzten Jahre weiterentwickeln können oder ob die momentan eingetretene Pause prolongiert werden muß, liegt eindeutig in Prag. Die österreichisch-jugoslawische Grenze war in den ersten Jahren nach 1945 tatsächlich eine blutende Grenze. Heute ist die Grenzlinie gegenüber diesem sozialistischen Nachbarstaat so friedlich und so offen wie jene gegenüber dem Schweizer Nachbarn. Besonders kritisch aber war in den Jahren um 1956 die Situation an unserer Grenze mit Ungarn. Nun: es gibt auch dort noch heute so manchen „Schönheitsfehler“, allein die Ungarn haben sich etwas einfallen lassen, wie sich das auch in Budapest hochentwickelte „Sicherheitsbedürfnis“ mit einer Normalisierung der Situation an der Grenze harmonisieren läßt.

Dasselbe muß auch in Prag möglich sein.

Ja, es könnte gar nicht schwerfallen, darüber hinaus etwas zu tun. Als ein Zeichen des Goodwill und gleichzeitig als einen Akt der Menschlichkeit würde die demokratische Öffentlichkeit Österreichs ohne Zweifel ansehen, wenn man sich in Prag entschließen könnte, den völlig unschuldigen zwölf Jahre alten Tibor Sindar mit seiner Familie — ob diese nun symphatisch ist oder nicht — wieder zu vereinen. Es sind oft kleine Gesten, die Politik machen können. Und die Politik der guten Nachbarschaft im Donauraum zwischen Österreich und der Tschechoslowakei muß wieder flottgemacht werden. Oder? Wie schrieben wir oben: Der Schlüssel liegt in Prag.

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