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Unrecht hat, wer Recht fordert

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Die Prager Machthaber haben wieder mit eiserner Faust zugeschlagen: Seit dem 29. Mai halten sie im berüchtigten Gefängnis am Prager Flughafen zehn Mitglieder des „Komitees zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter“ (VONS) fest, während die Staatsanwaltschaft sich fieberhaft auf einen Monsterprozeß vorbereitet, wie es ihn in der ÖSSR seit den fünfziger Jahren nicht mehr gegeben haben dürfte: Die Anklageschrift gegen die zehn Bürgerrechtskämpfer soll 6000 (!) Seiten umfassen.

In einer Nacht- und Nebelaktion drangen am 29. Mai um fünf Uhr früh Angehörige der Staatspolizei in die Wohnungen von 15 VONS-Mitglie-dern ein, durchwühlten die Zimmer bis in die kleinsten Winkel nach belastendem Material und verhafteten die Bürgerrechtskämpfer.

Fünf von ihnen wurden nach 48 Stunden wieder freigelassen, die anderen befinden sich seither in Untersuchungshaft. Die Verhafteten sind: Vaclav Benda, Jifi Dienstbier, Dana Nemcova, Vaclav Havel, Ota Bedna-fova, Jarmila Belikovä, Petr Uhl, La-dislav Lis, Vaclav Mäly und Jifi Ne-mec.

Offensichtlich sollten mit dieser Aktion zwei Fliegen auf einen Schlag getroffen werden, denn die Verhafteten sind nicht nur die aktivsten VONS-Mitgljeder; zwei von ihnen (Vaclav Benda und Jiri Dienstbier) sind derzeit auch Sprecher der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“. Die dritte Sprecherin der Charta, Zdena Tominova, bekam die Unterdrük-kungspraktiken der Sicherheitsorgane auf andere Weise zu spüren (siehe untenstehenden Kasten).

Das „Komitee zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter“ wurde im April dieses Jahres von Signataren der „Charta 77“ gebildet und hatte bis zur Verhaftung seiner wichtigsten Mitglieder nicht weniger als 116 Erklärungen zu Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei abgegeben.

VONS muß dem Prager Regime ein großer Dorn im Auge sein, handelt es sich bei dieser Gruppe ja ebensowenig wie bei der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ um eine illegale Organisation. Denn das Komitee geht bei seiner Tätigkeit von den gültigen tschechoslowakischen Gesetzen aus und fordert nur deren unvoreingenommene Auslegung, ihre strikte Einhaltung und macht auf Übertretungen aufmerksam. Aber das genügte anscheinend, um die Aktivisten mit einem Schub ins Gefängnis zu stecken.

An einem noch empfindlicheren Nerv müssen die Bürgerrechtskämpfer der „Charta 77“ die Bürokraten in der Prager Machtzentrale getroffen haben: Einen Tag, bevor die Staatspolizei losschlug, verbreiteten die Charta-Leute mit ihrem 26. Dokument eine ihrer wichtigsten Arbeiten. Denn in den „Thesen über die Verbrauchswirtschaft“ - so der Titel des Dokuments - beschäftigten sie sich mit einer Problematik, die jeden CSSR-Bürger unmittelbar betrifft:

Darin wird mit schonungsloser Offenheit das „chronische Spannungsverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage und die permanente Mangelwirtschaft“ bloßgelegt: Das zentralgelenkte Wirtschaftssystem führe zu ungesunden Abhängigkeiten zwischen Handel und Produktion, zu chronischen Disproportionen auf dem Verbrauchermarkt; durch eine entsprechende Finanz- und Währungspolitik rufe es eine starke Nachfrage hervor, für die jedoch das Warenangebot auf dem Markt nicht ausreiche.

Noch mehr: „Die undemokratische Entscheidungspraxis sowie die völlig unbefriedigende Situation der Wirtschaft mit ihren zunehmenden Mißständen, der wachsenden Verschwendung, der unqualifizierten Führung macht die Menschen gleichgültig gegenüber ihrer Arbeit, der Gesellschaft, nicht selten auch gegenüber den eigenen Lebensperspektiven.“

Eine positive Änderung dieser Situation sei nur durch die „Durchsetzung grundlegender Änderungen im öffentlichen Leben, angefangen mit ökonomischen und politischen Änderungen und mit der moralischen Verfassung der Gesellschaft endend“ möglich.

Solche Bloßlegung der wirtschaftlichen und sozialen Schwachstellen der kommunistischen Gesellschaft in der ÖSSR konnte von den orthodox-marxistischen Prager Machtha-bern nur als Ketzerei aufgefaßt werden. Frei nach der Devise, daß „Nicht ist, was nicht sein darf, sollen die Bürgerrechtskämpfer durch die jüngste Repressionswelle zum Schweigen gebracht werden. Denn unrecht hat nach Prager Auslegung offensichtlich, wer das Recht fordert.

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