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Gesinnung um 200 Prozent verbessert...

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Die Jugenderziehung in der Tschechoslowakei geht von zwei Dogmen aus: der Nachwuchs des Staates muß politisch verläßlich sein — das ist das ideologische Dogma — und er muß so ausgebildet werden, daß er vom Staat dort eingesetzt werden kann, wo der Staat ihn braucht

— das ist das praktisch-materielle Dogma. Ideologie und Praxis spielen dabei unaufhörlich ineinander: diese Verflechtung ruft freilich auch einen ebenso verflochtenen Widerstand hervor, der als seine sichtbaren Resultate in der gesinnungsmäßigen Ablehnung des volksdemokratischen Systems und in der praktischen Revolte gegen die schematische Massenarbeit schlechte Produktion buchen kann ...

„Ein großer Prozentsatz von Schülern erreicht in der Zeit des pflichtgemäßen Schulbesuchs noch immer nicht das vom neuen Schulgesetz bestimmte Ziel und beendet seine Schulpflicht in einer niedrigeren Klasse als der achten ...“

So hieß es vor wenigen Wochen in einer Verlautbarung des tschechoslowakischen Schulministeriums. Die Erklärung, die Schulminister Stoll für die schlechten Schulergebnisse fand, beschuldigt die Eltern der „Teilnahmslosigkeit“

— das würde also wohl bedeuten, daß sich die Unzufriedenheit der Eltern mit den bestehenden Zuständen auch gegen die gleichgeschaltete Schulbildung auswirkt. Für diesen Kampf der „Resistance“ gegen das Regime „von klein auf“ gibt es eine Reihe von Beweisen. Zu Beginn des Schuljahres las man in den Zeitungen der CSR, daß den Schülern in diesem Jahr um 50 Prozent mehr Lehrbücher als früher zur Verfügung stehen würden: die Zahl war mit acht Millionen angegeben. So lautete das Soll. Die Wirklichkeit war anders. In einem neuen Lehrbuch der tschechischen Sprache fanden die Kinder die Aufforderung beigelegt, mit Hilfe ihrer Lehrer die orthographischen Fehler des Buches zu verbessern. Nicht weniger als 78 solcher Fehler, die bereits nach Ausdrucken des Buches im Verlag selbst gefunden worden waren, waren besonders angemerkt. Im neuen Geschichtslehrbuch haben die Werktätigen der staatlichen Buchbinderei ihren Teil an praktischer Abreaktion der Gefühle für das System beigetragen, indem die Seiten 65 bis 92 umgekehrt (auf dem Kopf stehend) eingebunden worden sind; die Kon-trollore haben ein übriges getan und mit der Kontrollkarte Nr. 62, die jedem Buch beigefügt ist, bestätigt, daß das Buch in Ordnung befunden wurde ... Die neuen Lehrbücher sind „aus Materialersparnis“ nur broschiert.

Von der Schulerziehung geht es zur Erziehung für den praktischen Beruf. Schon in den Schulen werden „Diskussionen“ darüber abgehalten, durch welchen Beruf die Jugend dem Staat und vor allem der Idee des „Weltfriedens“ am besten dienen könne. Die gerade im bergwerkreichen Böhmen immer wiederkehrende Parole, die aus den Diskussionen geschöpft wird, heißt: „Werde Bergarbeiter!“ Es ist dabei von einer ganz besonderen Pikanterie, daß in den west-und nordwestböhmischen Kohlengebieten, wo viele sudetendeutsche Bergmannsfamilien in den Jahren 1945/46 nicht ausgesiedelt wurden, weil man sie zur Weiterführung der Betriebe benötigte, bereits in den Schulen die sudetendeutschen Jungen, in deren Familien der Bergmannsberuf Tradition ist, gegen die tschechischen Schüler ausgespielt werden. „Werdet euch gerade in diesem Jahr“, sagte ein Lehrer, „das den 10. Jahrestag der Befreiung durch die Rote Armee bringt, bewußt, daß ihr den Sowjets mehr Dank schuldet als die Deutschen — und laßt euch von ihiieii'njicht durch ihren größeren Beitrag zum Bergarbeftetberuf beschämen!“

Der Erziehung der Jugend ztk-den gewünschten Berufen dient das „Ministerium für Arbeitskräfte“ (Vaclav Nosek). Die Schulentlassenen werden, dem jeweiligen Bedarf entsprechend, für die uniformierten Abteilungen der Arbeitskraftreserven mobilisiert: männliche und weibliche Lehrlinge werden in Kasernen gesteckt und in dem in Frage kommenden Industriezweig sowie in angegliederten Fachschulen sowohl speziell für ihre Arbeit als auch politisch unterwiesen.Der Erfolg dieses Systems läßt sich nach dessen mehr als dreijährigem Bestände aus einer Kundmachung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ablesen. Sie stellte im Dezember 1954, am „3. Geburtstag“ der Arbeitskraftreserven, zornig fest, es geschehe nichts, um dem Mangel an Facharbeitern erfolgreich beizukommen; die Vertreter des Systems der Arbeitskraftreserven seien für die deutlichen Rückschläge in allen Zweigen der Industrie verantwortlich! Bei den früheren Skoda-Werken in Pilsen (jetzt Lenin-Werke) seien 2400 uniformierte Angehörige der Arbeitskraftreserven in Wohnkasernen untergebracht: seit sie im Betrieb mitarbeiten, seien durchschnittlich zehn Prozent aller hergestellten Autos fehlerhaft. Bei den früheren Bata-Werken in Zun (jetzt Svit-Werke in Gottwaldov genannt) hätten 1900 uniformierte Arbeitskraftreservenlehrlinge einen Produktionsrückgang um neun Prozent und das Ansteigen der Ausschußware in der Herren- und Damenschuherzeugung auf 27,8 Prozent verursacht. In einem nordböhmischen Textilkombinat seien weibliche uniformierte Arbeitskraftreservenlehrlinge schuld an einem Produktionsabgang von 15 Prozent und einem Ansteigen der Ausschußproduktion von 18,4 Prozent auf 34,6 Prozent innerhalb eines einzigen Jahres. Die 6000 Arbeitskraftreservenlehrlinge, die beim Bau eines Flugplatzes bei Prag eingesetzt worden sind, hätten den Baukostenplan wegen fehlerhafter Arbeiten, Ausbesserungen und Neuanschaffungen ruinierter Werkzeuge bereits um 12 Millionen tschechoslowakischer Kronen überschreiten lassen.

Bei dieser Katastrophe bleibt dem System nur ein Trost: der Bericht der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei hebt hervor, daß die „patriotische Gesinnung der tschechoslowakischen Lehrlinge um 200 Prozent verbessert worden sei...“ Mit welcher Rechenmaschine hat man wohl den Prozentgehalt der Gesinnung ermittelt? Es ist schwer, keine Satire zu schreiben ...

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