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Macht der Ohnmächtigen

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Zwei Jahre sind vergangen seit jenem Augenblick, da sich das Gesicht Osteuropas zu verändern begann. Die unbewegliche Maske des geschlossenen Systems ist geborsten und darunter erschien zuerst ein sanftes Lächeln. Dann verzerrte es sich in Grimassen und heute weiß niemand, wie dieser Teil Europas wirklich aussieht. Anscheinend werden wir noch einige Zeit warten müssen, bis wir die historische Bedeutung der Ereignisse vor zwei Jahren begreifen.

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Zwei Jahre sind vergangen seit jenem Augenblick, da sich das Gesicht Osteuropas zu verändern begann. Die unbewegliche Maske des geschlossenen Systems ist geborsten und darunter erschien zuerst ein sanftes Lächeln. Dann verzerrte es sich in Grimassen und heute weiß niemand, wie dieser Teil Europas wirklich aussieht. Anscheinend werden wir noch einige Zeit warten müssen, bis wir die historische Bedeutung der Ereignisse vor zwei Jahren begreifen.

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Dennoch muß ich immer wieder darüber nachdenken, was da eigentlich geschehen ist. Warum sich alles so und nicht anders abgespielt hat und ob die Geschichte einer unentrinnbaren Gesetzmäßigkeit unterliegt. Ich selbst wurde in diese Geschichte verwickelt, für eine Zeitlang erfaßte mich ihr Strudel und nun tröste ich mich im stillen, daß ich eher ihr Beobachter blieb und nicht viel Gelegenheit hatte, etwas zu verderben. Im November 1989 geriet ich plötzlich in eine Gruppe unausgeschlafener und erschöpfter Revolutionäre mit fiebrigen Augen, und weil es eigentlich meine Freunde waren, blieb ich mit ihnen nicht nur, weil ich dachte, es sei meine Pflicht, sondern auch, weil ich der Verlockung des großen Abenteuers nicht widerstehen konnte.

Heute beziehe ich aus diesem gewonnenen Schatz ein ganz selbstsüchtiges Glücksgefühl, vielleicht wie ein Dieb, der sich mit seiner Beute davonschleicht. Meine Beute ist eine faszinierende Erfahrung: Ich geriet in eine Zeit, die die Griechen die Zeit Kairos nannten, die Zeit des intensiven Erlebens der Gegenwart, die nur ganz selten als kleine Insel im Meer der gewöhnlichen Zeit Chronos vorkommt. Ich sah, wie alles von neuem beginnt und wie sich zugleich alles wiederholt. Eine neue Sehnsucht nach einer besseren menschlichen Welt erwachte, neue Beziehungen entstanden und auch eine Politik, die eine neue Politik werden wollte. Gleichzeitig wiederholte sich auch die alte platonische Sehnsucht, die Gesellschaft möge von Philosophen und Intellektuellen geführt werden: es wiederholte sich der Glaube, daß es das Recht, ja die Pflicht weiser Menschen sei, zu regieren.

Nach zwei Jahren sehe ich, wie der weitere Versuch einer Politik mittels Weisheit scheitert. Dieselben Menschen, die von den ersten Tagen an das Hirn der Revolution waren und denen man atemlos lauschte, wenn sie im Fernsehen und Rundfunk die wunderbaren Worte der Wahrheit sprachen, dieselben Menschen wurden zur Zielscheibe eines finsteren Hasses. Natürlich ist Haß ungerecht, sonst wäre es ja kein Haß. dies kann aber kaum ein Trost sein. Das aufdringliche, lästige Gefühl des Scheitems bleibt.

Die Slowakei nimmt in der Geschichte der osteuropäischen Bewegung eine besondere Stellung ein. Durch ihre politische Kultur und der Neigung, scharfe Kanten der inneren Machtpolitik abzuschleifen, steht sie Ungarn näher als Böhmen. Es mangelt ihr jedoch an der Noblesse und dem Selbstbewußtsein der Politiker, die in Ungarn während der vergangenen zwanzig Jahre den Kommunismus mit aristokratischer Elegance zersetzten und eigentlich fehlte ihr auch der Raum - in der harten Umklammerung der gnadenlosen Position der Prager kommunistischen Macht gegenüber jeder Lockerung festgefügter Strukturen. Eine eigentümliche Situation entstand, untypisch für die übrigen Länder: in der Slowakei hat sich das totalitäre System durch Vermenschlichung aufgeweicht, dadurch, daß es alle, die im stillen bereit waren, die Legitimität der Macht anzuerkennen, miteinbezog und ihnen auch Legitimität gewährte. Demgegenüber vertiefte sich in Böhmen der Abgrund zwischen Macht und Bevölkerung und es war nur eine Frage der Zeit, bis alle Kraft geschwunden war, um den Abgrund zu überwinden.

Ein typisches Beispiel lieferte der Verlauf der ersten Studentendemonstrationen im November 1989. Donnerstag, den 16. November, versammelten sich in Bratislava einige hundert Studenten, um des 50. Todestages des Prager Studenten Jan Opletal zu gedenken. Der Grund war derselbe wie einen Tag später in Prag: Aufbegehren gegen Unfreiheit. Die Studenten standen eine Weile am Hauptplatz herum, dann faßten sie sich an den Händen und zogen gemeinsam durch die Straßen. Anschließend blieben sie vor dem Gebäude des Schulministeriums stehen und von der Straße aus verlangten sie mehr Freiheit und bessere Wöhnbedingungen in den Internaten. Aus dem Ministerium kam ein höherer Beamter, versprach Verbesserung und unter höflicher Assistenz der Staatssicherheit wünschteman sich gegenseitig eine gute Nacht. Kein Fernsehsender brachte dieses Ereignis.

Tags darauf wurden in Prag, wie bekannt, die Studenten brutal niedergemetzelt, was die gesamte Gesellschaft in Böhmen und auch in der Slowakei in Bewegung brachte. Ich stellte mir oft die Frage, wieweit die slowakische Anschauung der Revolution dadurch bestimmt wurde, daß in den Straßen von Bratislava kein Blut geflossen war und daß der wesentliche Stoß in die Konstruktion des Systems, das dann so schön in sich zusammenfiel, in Prag versetzt wurde. Ich stelle mir oft die Frage, ob wir unsere eigene historische Zeit nicht um ein zu großes Stück verfehlt haben, das die Slowakei einfach nicht imstande sein wird, zu verkraften.

In Prag wurde vom ersten Tag an fieberhaft und zielbewußt eine politische Opposition gebildet, die praktisch zwanzig Jahre lang aufgebaut worden war. In Bratislava versammelten sich bei einer Protestkundgebung am 19. November einige hundert Wissenschaftler und Künstler, die sich zumeist von Vernissagen, Theater, gesellschaftlichen Anlässen oder

ökologischen Aktivitäten aus kannten, aber sich vordem nie auf dem Boden einer politischen Opposition getroffen hatten, weil es diese praktisch nicht gab.

Dies zeichnete auch den Charakter und das Gesicht der slowakischen Revolution. Ihre Handschrift war nämlich ausdrücklich poetisch, lok-ker, liebevol I und ein wenig jahrmarkthaft. Mir selbst widerstrebt es, die Authentizität des Geschehens jener Tage zu bezweifeln, weil ich weiß, wie ich, und sicherlich auch Zehntausende, all dies auf den Plätzen miterlebten; wir erlebten es als eine wirkliche Revolution, als einen wahrhaft authentischen historischen Augenblick. Dennoch bleibt mir der Eindruck, daß wir dieses schöne Theater selbst ein wenig mitarrangierten, um es als Wirklichkeit zu erleben.

Mir scheint, als ob wir damals die Zusammenhänge nicht sehen wollten, in die wir hineingeraten sind, wir wollten uns nicht bewußt machen, daß sich die Slowakei in ihrer Wahrnehmung der Ereignisse und ihrer Vorbereitung darauf anderswo befindet als Böhmen. Wir wollten uns selbst nicht als Menschen wahrnehmen, die in einem Land auf dem Höhepunkt einer historischen Bewegung waren -und das eher durch ein historisches Zusammentreffen äußerer Umstände als durch eine innere Logik der Entwicklung. Aus heutiger Sicht erscheint es wie eine schöne Erinnerung an längst vergangene Tage, als sich vor zwei Jahren in der Slowakei Zehntausende nur deshalb versammelten, weil man in Prag Studenten verprügelt hatte. Natürlich wußten wir alle, daß sie von demselben System verprügelt wurden, das auch in der Slowakei herrschte. Prag war aber doch recht weit.

Es ist bezeichnend, daß in der Slowakei die Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt" entstanden ist als ein' Memento des Prager Massakers und im Grunde als poetischer Ausdruck des Widerstands, demgegenüber wirkte in Prag im selben Augenblick das Bürgerforum als eine klare politische Plattform des Antikommunismus. Während wir uns in der Slowakei in poetischer Form gegen etwas empörten, was uns nicht unmittelbar berührte, weil in den Straßen von Bratislava niemand Studenten verprügelt hatte, bildeten sich in Prag bereits die Strukturen einer zukünftigen Macht.

Erster Teil eines Beitrags, den der Autor neben seinen literarischen Werken am 10. und 11. Februar im Zuge des von Stephan Eibel initiierten Autorenprojekts (mit juray Spitzer) „denk-haft" im Literarischen Quartier Alte Schmiede vorstellen wird.

Martin M. Simeika, Sohn tschechischer Eltern, 1957 in Bratislava geboren. Wurde wegen regimefeindlicher Aktivitäten seiner Eltern auf keine Schule zugelassen und mußte im Freundeskreis unterrichtet werden. In den achtizger Jahren begann er zu schreiben und gehörte 1989 zum Koordinationszentrum der „Öffentlichkeit gegen Gewalt". Gründer und derzeitiger Leiter des Archa-Verlags in Bratislava.

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