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Für Stunden in Prag

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Zum letztenmal war ich im Jahr 1937 in Prag. Ich war mit der Tschechoslowakei schon verbunden gewesen, als noch das Kronland Böhmen existierte. Mein Vater wurde dort geboren, mein Großvater lebte bis 1932 in Eisenstein im Böhmerwald, das den Namen Zelezna Ruda bekommen hatte. Von meinen Kinderjahren an bis dahin waren wir jedes Jahr dort. Später war mein Vater beruflich in Prag tätig, er pendelte sozusagen zwischen Wien und Prag, auch hatte ich einen Freund, der Kapellmeister am Prager Deutschen Theater war; auch um seinetwillen war ich gern in Prag.

Ich war in Prag sozusagen zu Hause, wir waren sogar nach 1918 tschechoslowakische Bürger geworden, automatisch, weil mein Vater dort geboren worden war, und mußten, da ich mir das wünschte, irgendwann um 1925 Österreicher werden. Ich erinnere mich, daß der Name meiner Mutter in ihrem Paß als „Weiglova" bezeichnet wurde.

Prag war damals für mich, was später Basel, Zürich und Paris geworden, Städte, in denen man sich selbstverständlich bewegt, wo man nicht auf die Straßentafeln schauen muß, ehe man um die nächste Ecke biegt, waren — österreichische Städte e. h.

Ich sah Prag vor mir, als die Sudetenkrise passierte, und dann als die deutsche Wehrmacht in die Tschechoslowakei einmarschierte. Ich nahm immer besonders engagiert wahr, was dort geschah.

Nun kam kürzlich eine Einladung unserer Prager Botschaft an Elfriede Ott und mich. Doch der sogenannte Terminkalender nagte an dem vorgesehenen Termin von drei Prager Tagen. Aber wir wollten nicht verschieben. Wir fuhren am Nachmittag mit dem Zug bis kurz nach Mitternacht hin, wir fuhren vierundzwanzig Stunden später mit dem Zug von Prag weg.

Es ist unglaublich, aber ich hatte es schon bei meinem ersten Besuch in Rom erlebt: Man kann sich in einem Tag eine Stadt „aneignen".

Die einzige große Verwirrung entstand gleich nach der Ankunft. Nicht daß der Bahnhof, einst Franzjosefsbahnhof, dann Wilsonbahnhof, jetzt Hauptbahnhof, vergrößert worden war, aber daß man dann mit dem Taxi nicht zum nahen Wenzelsplatz fuhr, sondern über viele Stadtautobahnstrek-ken in ein sehr angenehmes Hotel: „Zu den drei Sträussen", ganz nah der Karlsbrücke. Die Karlsbrük-ke ist nur noch für Fußgänger passierbar; das ist mir recht. Sie ist um ein halbes Jahrhundert schöner geworden.

Am nächsten Morgen holt uns Willy Lorenz von der Botschaft ab; er ist nicht nur der dortige Kulturmann, sondern auch ein Kulturmensch.

Wir fahren zuerst zum alten jüdischen Teil des Zentralfriedhofs. Gleich nach dem Eingang eine Hinweistafel mit der Aufschrift „Dr. Franz Kafka" und der Nummer des Grabs. Ich denke an das Leben des Franz Kafka, an seine armselige Anonymität, an seine Leiden, und nun ist er eine Attraktion; aber es ist, denke ich, eher Pietät, die so viele dorthin führt.

Auf dem Grabstein unter dem Na-' men des Sohnes diejenigen der Eltern, die Inschriften sind, außer den Namen, hebräisch. Dieser sehr große Totenhain erinnert mich an unseren Zentralfriedhof „Erstes Tor": Gegenwart des Vergangenen. Eine Minorität innerhalb der Minorität. Für mich strahlen diese Gräber starke Lebendigkeit aus, ganz still, weithin, im guten Sinn des Wortes ein Friedhof gerade in der Verfallenheit. Die Wege eng gesäumt von Bäumen. Und wenn Laub dicht auf dem Boden liegt, ist man glücklich, daß diese Bäume noch leben, denn sonst sieht man immer wieder Bäume, die krank sind.

Dann fahren wir in die Stadt. Jetzt endlich auch der Wenzelsplatz, am unteren Ende entspringt der Graben. Und ich weiß plötzlich wieder, wie er auf Tschechisch heißt. Viele tschechische Wörter, an die ich nie wieder gedacht hatte, sind plötzlich wiedergekommen. Was Butter heißt, was Ausgang und Eingang heißt, Milch, Bahnsteig, Bahnhof, Platz. Ich bin wie aus der Emigration in eine Heimat zurückgekehrt. Und Elfriede Ott sagt: „Die Leute auf der Straße sehen alle aus wie Bekannte."

Wenn ich von Tschechischsprechenden umgeben bin, ist das vertraut für mich. Und beim Gang durch das Stadtzentrum merkt man, daß viele Leute Deutsch körinen und Deutsch sprechen. Und manchmal weiß ich, was mich um die Ecke erwartet: das alte Ständetheater, wohin Mozart auf der Reise nach Prag gefahren ist, die Teinkirche, der Altstädter Ring. Prag gehört mir, manchmal läßt es mich an Innsbruck, manchmal an Graz, an Laibach, an Wien, an Budapest, an Krakau denken, es ist eine unserige Stadt, wenn auch — darf ich dieses Wort benützen? — böhmisch durch und durch.

Was ich schon immer einen Fachmann fragen wollte, frage ich jetzt den Willy Lorenz, der Historiker ist: Woher kommt eigentlich der Doppeladler? Er kommt überraschenderweise von den Römern und meinte ursprünglich Rom und Byzanz. Da muß ich denken, daß er heute eine besondere Aktualität haben könnte, die allerdings eine Wunschtraum-Aktualität ist. Der Doppeladler ist nun für mich kein habsbur-gisch-nostalgisches Symbol mehr. Mit seinen beiden in entgegengesetzte Himmelsrichtungen blickenden Köpfen an einem Körper ist er ein Abbild des west-öst-lichen Mitteleuropa.

Viele hiesige Verwandte, die sich nicht rechtzeitig in die Emigration retten konnten, sind durch die Nationalsozialisten umgekommen, auch daran muß ich hier ganz intensiv denken; aber es war nicht der erste Pogrom, und geblieben sind durch die Jahrhunderte die Synagogen und der ungeheuerlich alte jüdische Alt-Neu-Friedhof, wo auf ganz engem Raum die Grabsteine sich drängen. So wenig Platz für die Toten. Da mußte ich — ist es pietätlos? - an Hallstatt denken. Der Friedhof wird jetzt vom Staat allmählich renoviert. Eine ganz kleine, aber immerhin, jüdische Gemeinde gibt es noch in Prag; in der Alt-Neu-Synagoge wird noch — oder wieder — geheiratet.

Eine meiner Kusinen, jünger als ich, hat die Hölle überlebt, ist seither in Prag berufstätig. Ich habe sie erst vor einigen Monaten kennengelernt, als ich sie bat, uns zu besuchen. Sie war auf unserer Prag-Besichtigung mit dabei. Sie hat drei Töchter, aber mit ihnen konnte ich mich nur in englischer Sprache verständigen. Was für eine Zeit, in der Nachkommen des Ludwig Weigel aus Eisenstein die deutsche Sprache (aus verständlichen Gründen) nicht erlernen wollten!

Abends dann unser „Abend" in der Residenz der österreichischen Botschaft; eine Botschaft und ein Botschafter-Ehepaar zum Herzeigen, das tut immer so wohl. Ich wollte ursprünglich etwas Selbstgemachtes vorlesen, aber ich halte statt dessen eine kleine improvisierte Rede, ungefähr das, was ich hier geschrieben habe. Mit der deutlichen Vorbemerkung: daß ich keine politische Rede halte, auch wenn das, was ich sage, einer solchen ähnlich werden sollte.

Vorher ist etwas gewesen, was ich in meiner Rede nicht gesagt habe; aber was für mich meine Erlebnisse besiegelte. An diesem Tag war ein internationales Fußballmatch, Bohemians, Prag, gegen Ajax, Amsterdam. Der Botschafts-Chauffeur ist auch ein großer Fußball-Enthusiast. Und wir unterhielten uns über die Ausgangslage. Auf einmal höre ich mich sagen: „Um in die nächste Runde aufzusteigen, müßten wir zwei zu null gewinnen." Dieses „wir" war mein Vorgriff auf den neuen Doppeladler.

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