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KINDHEIT IM ALTEN PRAG

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Das erste, was ich von meinem Leben weiß, ist ein Trommelwirbel.

Die Fenster unseres Hauses „Zum schwarzen Lamm“ am Prager Fleischmarkt waren mit schweren Möbeln verbarrikadiert, das Gaslicht brannte Tag und Nacht, ein alter, großer Trommelrevolver meines Vaters lag geladen auf dem Tisch. Ich lag im Kinderzimmer im Bett, halb bewußtlos und schwer fiebernd: ich hatte Scharlach, und gestern hatte der alte Hausarzt auch noch die Anfänge einer Lungenentzündung festgestellt.

Und doch sagte mein Vater zu meiner Mutter: „Nimm ihn auf und trag ihn zum Fenster. Er wird es vielleicht nie wieder in seinem Leben sehen!“

Ich wurde aus dem Bett genommen und ans Fenster getragen, ein Möbelstück wurde etwas beiseite gerückt, und da sah ich es:

Draußen war heller Tag — nicht Nacht, wie trotz des Gaslichts im Hause. Ulanen hatten ein Karree gebildet, in ihrer Mitte las ein Offizier vom Pferde herab eine Proklamation.

Hinter ihm stand der Trommler, der eben einen Wirbel geschlagen hatte.

Was der Offizier las, verstand ich hinter den dicht geschlossenen Fenstern nicht. Ich hörte nur, was er hinter jedem Satz mit erhobener Stimme wiederholte:

.....wird mit dem Tode bestraft.“

Und nochmals, nach ein paar undeutlichen Worten:

.....wird mit dem Tode bestraft.“ 3 rms'ßq;

Und zum drittenmal:

„ ... wird mit dem Tode bestraft.“

Dann zogen sie weiter. Männer hatten Inzwischen die Häuserwände mit gleichförmigen Plakaten beklebt: sie zeigten an, daß das Standrecht über die Haupt- und Residenzstadt Prag verkündet worden war, wie mir mein Vater sagte. Ich wurde wieder ins Kinderbett gelegt und dämmerte weiter vor mich hin.

*

Am nächsten Morgen kam Polizei, um unser kleines Stubenmädchen zu verhaften. Ich hörte sie im Vorzimmer laut schluchzen. Sie war der Aufwiegelung verdächtig. Mein Vater sprach ruhig mit ihr, sie solle keine Angst haben, er werde sie bestimmt befreien können.

Überall in der Umgebung waren deutsche und jüdische Läden und Wohnungen aufgebrochen und ausgeplündert worden. Als sich aufgeregte Gruppen auch vor unserem Hause, dem Hause „Zum schwarzen Lamm“, bildeten und man Rufe hörte „Deutsche! Juden“, da hatte unser Mädchen, selbst eine Tschechin, das Küchenfenster aufgerissen und hinausgeschrien: „Hier wohnen keine Deutschen, aber da drüben ist die deutsche Handelsakademie!“

Eine Stunde später lagen Möbel, Requisiten und Bilder der deutschen Handelsakademie zertrümmert auf der Straße — aber unserem Hause war nichts geschehen, nicht einmal die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Was mit dem Mädchen geschah, weiß ich nicht. Mein Vater war ein angesehener Advokat, und ich hoffe, der Kleinen ist kein Haar gekrümmt worden. Was sie wollte, war gut — was sie tat, war äußerst töricht.

Deutsche und Juden: das war damals für das tschechische Prag fast identisch, und beide, Deutsche und Juden, waren gleich verhaßt. Die Juden sprachen Deutsch und waren österreichische Patrioten, und das war auch mein Vater, wenn er politisch überhaupt irgend etwas war. Die höhere Beamtenschaft sprach ein völlig denaturalisiertes, steriles und groteskes k. u. k. Tschechisch-Deutsch. Die Adeligen in ihren geheimnisvollen, riesigen Barockpalästen auf der Kleinseite sprachen Französisch und gehörten keiner Nation an, sondern dem Heiligen Römischen Reich, das es seit fast einem Jahrhundert nicht mehr gab. Meine Amme, mein Kindermädchen, die Köchin, das Stubenmädchen sprachen Tschechisch, und ich sprach Tschechisch mit ihnen. Erst als ich, sechs Jahre alt, in die Piaristenschule in der Herrengasse kam, war es entschieden, daß ich Deutscher und Österreicher werden sollte.

Eine Klasse über mir saß ein Junge, mit dem ich als ganz kleines Kind oft im Stadtpark gespielt hatte, unter den sorgsamen Augen der Kinderfrau Bäbi. Er hieß Franz Werfel, seine Familie wohnte, beträchtlich vornehmer und reicher als wir, nicht in der lärmenden Altstadt, sondern in der stillen und feinen Mariengasse am Stadtpark.

Einige Jahre vorher hatte ein anderer Schuljunge dieselben Schulbänke des Piari'tenklosters gewetzt: Rene Rilke. Das Haus seiner Eltern lag nur zwei Ecken entfernt von dem Werfeis, und doch in einem etwas weniger vornehmen Viertel, was man schon daraus ersehen kann, daß auch wir

selbst, Jahre später, dorthin zogen: es war die Heinrichsgasse mit ihrer uralten romanisch-gotischen Kirche. So gab es vornehme, halbvornehme und ganz unvornehme Kreise, man durfte da nicht zu sehr am Lack kratzen, sonst hätte sich herausgestellt, daß sie alle aus dem gleichen Holz geschnitzt waren: es waren eben die Bürger der Stadt Prag, die sich aus dem oder jenem Grunde etwas vornehmer dünkten als andere.

Meine Mutter war eine kühle, ehrgeizige, sehr energische Frau, die ich gern hatte, vor allem, weil ich meinen Vater ablehnte: wegen seiner Weichheit, seiner Trägheit, seines dicken Bauches, seiner Glatze und seines ganz unbeherrschten Jähzorns — und nicht zuletzt wegen seines goldenen Herzens, von dem mir alle möglichen Leute erzählten und von dem ich so gar nichts wußte. Ich habe meine kühle Mutter in meiner Kindheit nur drei- oder viermal weinen gehört, und jedesmal war es von großer Bedeutung. Es geschah immer am Frühstückstisch, über die Zeitung weg.

Einmal sagte mein Vater: „Es ist jetzt ganz klar — Ester-häzy ist der Spion, nicht Dreyfus. Seine Hintermänner haben auch die belastenden Dokumente gefälscht. Es ist alles nur antisemitische Mache.“ Und meine Mutter weinte zornig und schrie: „Ich werde ihn ermorden! Ich fahre nach Paris und ermorde ihn!“ Mein Vater beruhigte sie. Das war, wie ich jetzt weiß, während der Revisionsverhandlungen in Rennes 1899, als Dreyfus zum zweitenmal wegen Spionage verurteilt wurde, trotz der Bemühungen von Zola Clemenceau, Ana-tole France und Jean Jaures. — In der Tat hat Esterhäzy, Jahre später, Selbstmord begangen, als seine Spionagetätigkeit für die deutsche Botschaft in Paris offenbar wurde.

Einmal weinte meine Mutter, als in der Zeitung stand, daß unsere schöne, ruhelose Kaiserin Elisabeth von einem italienischen Anarchisten in Genf erdolcht worden war.

„Man wird ihn doch hängen?“ fragte sie schluchzend. — Man hat ihn nicht gehängt: warum auch? Er gehörte ins Irrenhaus.

Ich hörte meine Mutter noch einmal weinen, an dem Tag, an dem Giuseppe Verdi starb. Hier ist meine Erinnerung besonders dunkel, obwohl es doch einige Jahre später geschah. Ich kannte von Verdi, dessen Gestalt später für Werfel und uns alle so wichtig werden sollte, nur das, was meine Mut-< ter manchmal abends unter den brennenden Kerzen de3 Pianinos spielte und sang: Arien aus „La Traviata“, aus dem „Maskenball“, aus „Rigoletto“ und „Ernani“ und aus dem „Troubadour“.

Aber ich sehe mich als Knaben, in einen dunklen Anzug gesteckt, in einer Theaterloge, die Bühne war ganz schwarz verhangen, und Caruso, Arimondi, die Tetrazzini und andere, alle in tiefster Trauer, sangen Verdis „Requiem“ zu Ehren des toten Maestro Verdi. Wo und wann — ich kann es nicht mehr sagen. Aber es war ein großer Eindruck ... •

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