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In einem halbdunklen Pawlatschenhof...

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In einem halbdunklen Pawlatschenhof bewohnten Mutter und ich ein Kabinett, vielmehr eine feuchte Besenkammer, die kein Fenster und nur in Mannshöhe ein Luftloch hatte. Unrat und Schmutz mußten wir vorher entfernen, dann tünchten wir die modrigen Wände-. Zur Not war dort ein Bett, ein Tisch, ein kleiner Schrank, jedoch kein Stuhl unterzubringen. Mutter begnügte sich mit einem Schemel, mir blieb der Sitzplatz auf dem Bett Vorbehalten.

In der Mitte des Raumes mußten wir uns um einen sogenannten eisernen Hund, einen kleinen, rotglühenden Ofen, herumdrücken, der im Win ter bitter nötig war, da Mutter auf ihm unsere bescheidenen Mahlzeiten bereitete., Am Abend rußte eine Petroleumlampe oder eine Kerze.

Hier hatten wir ein winziges Zuhause. Die Wirtin hatte uns das Blaue vom Himmel versprochen, sie war die Güte und der Anstand in Person, aber kaum waren wir eingezogen, wurde uns die Zubereitung auch der kleinsten Mahlzeit untersagt, die Mitbenützung der Küche verboten.

Die Tochter des Hauses, die rote Zdenka, hielt dort Hof mit ihren Schlafburschen, professionellen Raufbolden und Messerstechern, die sich in Lärm und Roheit überboten. Es trat nur Ruhe ein, wenn einige der Plattenbrüder von der Polizei gefaßt wurden. Um so wüstere Gelage aber gab es immer wieder, wenn einer der Kanalstrotter aus dem Gefängnis kam. Dann brillierte der Häuptling der Strizzis, der „gflickte Schurl“, an der roten Zdenka als Messerwerfer. Mit den gemeinsten Zurufen feuerte sie ihren Gebieter an. Ihr konnten die Messer nicht schnell genug flitzen.

Am Schluß ihrer Orgien ersoffen die Banditen in heulendem Elend. Wehmütig grölten sie ihren Galeristenchoral:

„Hereinspaziert, zu sehen Der höchste Ausverkauf!

Mir sand die letzten Pülcher,

Das Pülchern hört si auf!“

Der „gschmirgelte Poidl“, ein Einbrecher, den man nie erwischen konnte, übertrumpfte sie alle mit seinem Gebrüll: „Hauts alls zsamm! Ghört eh nix uns!”

Diese Hölle nahm meine Mutter in Kauf. Es gab für sie etwas noch Aergeres, das Gnadenbrot bei Tante Seipel. Jeden Morgen, bevor sie, die Rechte Bahngasse entlang, ins Münzamt zur Arbeit rannte, wurde ich in der Sechskrügel- gasse bei der Jetti-Tant’ abgeliefert und abends von ihr wieder abgeholt ... Nur um mich einige Stunden für sich allein zu haben, nahm sie diese Tortur auf sich.

In der Besenkammer machte die zarte Frau sich dann erschöpft an die Hausarbeit, meistens auch nachts. Nie hörte ich eine Klage. Nur ihrem Bruder Franz eröffnete sie sich:„... Meine armen Hände ... Ich kann die schweren Geldsäcke nicht heben ... Der hohe Silbersaal wird noch mein Unglück! Der Bruder war für sie ein Stück Heimat, Zuflucht und Trost, wenn er abends bei uns war. Meist Sonnabend, wenn unsere Markthelfer und Viehtreiber in den Wirtshäusern sich groß feiern ließen.

Schmalbrüstig, mit seinen 25 Jahren, den Stifteihaaren und der abgenützten Nickelbrille, saß er mit mir auf dem Bett. Er hatte in Prag den Kaufmannsberuf erlernt, aber er sah sich hierzulande nirgends heraus. Für ihn gab es nur eines: Amerika! Das Land der Zukunft. „In drei Wochen sind wir alle drüben ... in Hamburg .. . die Packetfahrt-Gesellschaft ... im Zwischendeck ... der große Traum ... die Schlachthäuser in Chikago ... das wird der Anfang ... dann geht’s von Stufe zu Stufe... wir werden reich ... wir werden im Pullman-Palast-Wagen reisen ... wir machen Taler! (die Bezeichnung Dollar war damals noch nicht sprachgebräuch- Iich) ... weg von Effropa! (er sprach es slawisch aus) ... kommt mit alle zwei, Rudi wird Ameri- kansky!”

Um ein Haar hätte er sein Ziel erreicht. An einem bitterkalten Tag standen wir drei Ecke Ungar- und Beatrixgasse, gegenüber dem Polizeikommissariat Landstraße. Ich weiß noch genau die Stelle. Er holte seinen neuen Paß für die große Fahrt und konnte es nicht erwarten, daß auch Mutter und ich zwei Pässe beantragten. Bevor wir die Straße überquerten — war damals ein Schutzengel mit mir? —, riß ich Mutter zurück, klammerte mich an ihren Rockzipfel und schrie aus Leibeskräften: „Mutti! Mutti! Nicht Amerika!“

Wie Mutter und Onkel Franz es aufnahmen, weiß ich nicht mehr. Ich sehe uns nur noch im wackeligen Stellwagen die Fasangasse hinauffahren, ein Schneesturm wehte uns in die Besenkammer zu unserem warmen, eisernen Hund. Der Verführer mit der Nickelbrille war verschwunden. Mutter und ich waren allein, zwei Tage vorm Christfest.

Wir schmückten ein winziges Bäumchen. Kümmerlich streckte es uns seine mageren Aeste entgegen. Es gab Nüsse, Aepfel und Kuchen, viel Gold und Silber, Schokolade und farbige Bänder ... und das erste Bilderbuch, mit bunten Elfen, lustigen Tieren und Zwergen ... und die

Kartoffeln schmeckten so gut, dazu gab es Butter und Hering und viel Lebkuchen ... hätte ich wissen können, daß Mutter für all diese Pracht ihren Ehering ins Pfandhaus getragen hatte, um mich an diesem Tag ganz allein zu besitzen ... nach dreißig Jahren gestand sie es mir.

Die bunten Lichter brannten, ich war selig. Ich wollte Mutter soviel Liebes sagen, was wollte ich sie nicht alles fragen ...

„Bitte, bitte, erzähl mir was Schönes von den lustigen Tieren und Zwergen oder dein Märchen von den vielen Talern ..."

„Ja, ich erzähl dir vom hohen Silbersaal und den tausend Talern ... ich erzähl dir das Märchen von der Levante.“

„Was ist die Levante, Mutter?“

„Die Donau fließt ins Heilige Land. Dort ist Jerusalem, die große Stadt, und Bethlehem, wo Christ geboren, und dort ist tausend und eine Nacht.“

„Tausend und eine Nacht? So viele Taler kannst du machen und so weit gehen deine Taler?“

„Mir gehören sie ja nicht. Die gehören den Herren in der Levante."

„Mutti, ist es dort schön?"

„Ja, es muß was Berühmtes sein. Ich hab' immer geglaubt, es ist in Aegypten, es ist aber vielleicht in Afrika ... ?“

„In Afrika? Zeig mir doch einen Taler, Mutti.“

„Ich habe keinen, Kindchen.“

„Bitte, mach keine Taler mehr. Du plagst dich soviel und hast nicht einen einzigen. Wenn ich groß bin, werde ich die Taler machen, und die werden alle, alle für dich sein ..." Lang und tief wurden die Atemzüge des Kindes.

Am kleinen Hund kochte ein kräftiges Feiertagssüppchen. Mutter bewachte es. Der Lichterbaum war bald am Erlöschen.

Im ganzen Haus war es ruhig. Nebenan waren die Messerstecher heute ganz behutsam und leise. Sie summten das stille Lied, sie hauchten es — so innig und zart, Wie nur die aller- schwersten Burschen es können. Für Mutter war es nie schöner erklungen.

Unbeweglich saß sie auf dem Schemel. Zwei Schatten flackerten an der Wand, die sich kreuzten. Die sah sie unentwegt an. „Das eine weiß ich: von meinem Mann hat mich Gott befreit, vom Münzamt wird mich mein Kind befreien!“

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