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Der große Traum

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In der Abgeschiedenheit eines kleinen Dorfes unweit eines größeren Marktfleckens lebten zwei alternde Jungfern, die Schwestern Ursula und Amalia. In ihrem Äußeren waren sie kaum zu unterscheiden. Vielleicht waren sie Zwillinge.

Sie bewohnten den ersten Stock eines ganz kleinen, unglaublich schmalen Häuschens, dessen paar untere Räume irgend jemandem als Warenlager dienten. Den ganzen Tag bis in die Nacht hinein saßen sie bei ihrer Arbeit. Sie waren Weißnäherinnen, und die Damen des benachbarten Marktfleckens ließen jeden Stich bei ihnen ausführen, denn sie waren unübertrefflich saubere Arbeiterinnen, und ihre Preise waren so niedrig, daß manchmal eine von den empfindsamen Kunden peinlich davon berührt war, ohne daß aber jemals eine ihnen mehr gezahlt hätte, um sie (im Interesse der anderen Kunden) nicht zu verderben.

Wenn sie sich — immer zu zweit und nie allein — einmal auf die Straße begaben, :o war dies fast nur zum Zwecke des Kirchgangs. Dann hatten sie die Augen halb geschlossen, als täte ihnen das Licht der Sonne weh. Sie hielten sich nie lange unterwegs auf und redeten mit anderen Menschen nur aus Höflichkeit oder wenn sie von Kundinnen angesprochen wurden. Ihr ganzes Wesen trug etwas Unsicheres und Weltscheues an sich.

Und doch zitterte in, diesen glimmenden Leben eine merkwürdige Unrast, eine Erwartung und Erregung, die sie zuzeiten tage- und nächtelang nicht zur Ruhe kommen ließ. Aus dieser ihrer seelischen Verfassung war einmal ein Wort, das rasch ihrem Munde entflohen war, in die Öffentlichkeit gekommen und wieder fast vergessen worden: wir werden nicht arm sterben.

Niemand ahnte, wie Lotto und Lose diese stillen klaren Seelen aufwühlten. Die Lose bestellten sie in der Stadt brieflich. Niemand, der sie kannte, sollte etwas von ihrer Leidenschaft wissen, denn nichts schienen sie so zu scheuen als den Blick der Öffentlichkeit.

An einem Dezemberabend, kurz vor Weihnachten, als draußen der Schnee in dicken Flocken niedersank und sie am Nachmittag schon bald nach drei Uhr das öllämpehen angezündet hatten, geschah es, daß ein Mann an die Türe pochte und Einlaß begehrte. Obgleich sie im allgemeinen mißtrauisch waren, öffneten sie, da es nichts Ungewöhnliches war, daß um diese Zeit Kunden vorsprachen.

Der Mann schüttelte den Schnee von Füßen und Kleidung und wischte dann seinen gold- (oder gelb-) geränderten Zwicker am Taschentuche trocken, wobei er fragte: „Bin ich hier richtig auf Haus Nr. 13? Bei dem Wetter kann man nichts sehen.“ Und dann fügte er hinzu, daß man diesmal wahrscheinlich nicht sagen könne, dreizehn sei eine Unglückszahl, und ob sie nicht vor acht Wochen ein Los gekauft hätten und ob sie ihm dasselbe vorweisen wollten. Zögernd und doch voll Spannung begannen sie in einem Schrank herumzukramen und reichten ihm dann das Los. Er besah es beim Lichte, dann probte er es zwischen den Fingern und hielt es nochmals gegen das Lichtlein.

„Es ist gut“, sagte er dann. „E6 ist kein Falsifikat.“

Dieses nie gehörte glasglatte Wort Falsifikat, das er später noch ein- oder zweimal wiederholte, zusammen mit dem goldgeränderten Zwicker machten ihn in den Augen der zwei einsamen Frauen zu einem vertrauenswürdigen, Manne. Auch ein grauer Bart bürgte ihnen für eine gewisse Wohlanständigkeit.

„Ich beglückwünsche die Damen“, sagte er, „das Los Nummer“ — und jetzt nannte er die Nummer aus dem Gedächtnisse — „hat den Haupttreffer gemacht. Er beträgt, wie Ihnen bekannt ist, 10.000 Gulden, und ich habe den Auftrag, Ihnen den Betrag sofort bar auszubezahlen.“ Er zog ein Kuvert aus der Tasche und breitete zehn Stück elfenbeinglänzende neue Tausendgulden-noten auf dem Tische aus.

Die Frauen saßen reglos, erschreckt in tiefer Stille. Kein Mensch konnte in diesem Augenblicke ausdenken, wann sie wieder die Sprache erlangen würden.

„Es ist Ota noch eine Kleinigkeit zu erledigen“, sagte der nun voll akkreditierte Mann. „Bekanntlich ist mit jedem Losgewinn eine Gewinnsteuer verbunden. Sie beträgt bei 10.000 Gulden tausend Gulden und ist binnen einem Vierteljahr zu zahlen. Sie beträgt aber die Hälfte, wenn Sie den Betrag sofort erlegen. Nur in diesem Falle kann ich Ihnen den Gewinn hier lassen.“

Als die Frauen hörten, daß sie etwas zahlen sollten, erwachten sie wieder zum Leben. Sie blickten sich ratlos an, dann sahen sie auf den Mann mit dem grauen Bart, der bereits wieder die elfenbeinglänzenden Papiere aufeinanderlegte.

Lange waren sie ratlos, dann gingen sie, ohne sich mit Worten zu verständigen, gleichzeitig zu der Kommode. Aus einem rohen Leinensack begannen sie zu zählen, Metall und Banknoten, mußten immer wieder von vorne anfangen, und als sie endlich fünfhundert Gulden aus allen Geldsorten auf dem Tische aufgehäuft hatten, nahmen sich die paar restlichen klimpernden Münzen in dem großen Sacke komisch aus. Fer Mann mit dem grauen Barte zählte, rasch das Geld — so rasch, daß man kaum glauben konnte, daß er es zähle — und ließ es dann in seinen Taschen verschwinden.

„So bin ich als ein wahrer Weihnachtsengel zu Ihnen gekommen“, sagte er noch, dann verneigte er sich höflich vor den Frauen.

„Wir danken Ihnen“, hatte Ursula, die am ehesten zu sich gekommen war, gesagt. „Ihr Beruf muß wahrlich der schönste auf der Welt sein.“

Die Tür ins Freie war schon lang ins Schloß gefallen, die zwei Frauen standen noch immer vor dem Märchen ihres Reichtums. Endlich nahmen sie das wunderbare Geld mit ihren schmalen Fingern, legten es in das zusammengefaltete Los und verbargen es unter ihrer Wäsche.

Tage unsagbarer Aufregung folgten. Allmählich aber trat an Stelle des Glücksrausches eine stille Freude an der Geborgenheit, an der Sorglosigkeit ihrer Zukunft. Sie dachten nicht daran, aus ihrem Leben ein Fest zu machen, vielleicht wollten sie später einmal eine Reise tun, wenn es ihre Arbeit zuließ. Nur manchmal an besonderen Tagen und jedesmal am Jahrestag ihres Glücks holten sie ihren Schatz hervor und schauten ihn scheu an. — Ihre bisherige Beschäftigung aufzugeben oder in ihrem Leben etwas zu ändern, daran dachten si nicht einen Augenblick. Anfangs waren sie noch mißtrauisch, ob nicht ihre Nachbarn von dem Ereignis erfahren hätten. Aber bald sahen sie, daß keiner etwas wußte, nein, niemand ahnte etwas. Der Überbringer ihres Reichtums verstand, diskret zu sein.

Das Weihnachtsfest war das schönste ihres Lebens. Das Weihnachtsbäumchen stellten sie in eine Ecke des Zimmers, damit niemand von der Straße das halbe Dutzend Lichtlein zählen konnte. Und sie saßen dabei, bis das letzte auf dem grünen Ästchen knisternd verbrannte.

So vergingen die Jahre. Nichts störte mehr ihren Frieden, seit ihr Reichtum wohlgeborgen unter Wäsche in der Kommode ruhte.

Ihr Fleiß war nicht erlahmt, nur ihre Hände wurden allgemach, langsamer. Einmal im frühen Herbst glitt Amalie die Arbeit aus der Hand und es fröstelte sie, als ob es schon Winter wäre. Von da an saß sie den ganzen Tag untätig in der Sonne und redete einmal von der Reise, die sie noch immer vor sich hatten.

Der erste Sturm umbrauste das Haus. Ursula trat ins gemeinsame Zimmer. Sie hatte am Dachboden das Luftloch verstopft. Da antwortete Amalia nicht auf die Anrede. Ihr schmales Kinn ruhte auf der Brust, und das feine silberweiße Haar war etwas nach vorne gesunken. Da wußte Ursula, daß sie allein war.

In der Weihnachtszeit, als das große Ereignis ihres Lebens sich jährte, ging sie am frühen Nachmittag zum Pfarrer und erzählte ihm ausführlich ihr großes Geheimnis. Sie bat ihn um Ratschläge, wie sie am besten über ihren Reichtum für den Fall ihres Ablebens verfügen solle. Der Pfarrer gab ihr nach mehreren Richtungen Ratschläge, ohne daß sich Ursula, als 6ie wegging, für einen entschieden hätte.

An einem der kommenden Tage fand das Milchmädchen am Morgen die Milch, die sie am Vortage hingestellt hatte, unberührt und gefroren auf der Stiege.

Die Nachbarn öffneten mit viel Mühe die doppelt verschlossene Türe.

Das schmale Kinn auf der Brust und das feine silberweiße Haar etwas nach vorne gefallen, fanden sie Ursula im Lehnstuhl und etwas später unter der Wäsche im Schrank die zehn elfenbeinglänzenden Tausendguldenfalsifikate.

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