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DER TOD DES KANZLERS

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Manchmal genügt eine aufgefangene Bemerkung, ja oft ein einziges Wort, um eine Zeit in einem wachwerden zu lassen, die nur mehr in der Erinnerung zum Leben erweckt werden kann. Als Kind weiß man davon noch nichts, und auch als Jüngling kaum noch; erst um die Mitte des Lebens fängt das an — voll von etwas melancholischem, poetischem Reiz. Es ist eine Brücke zu einem nie mehr erreichbaren Ufer — Brücke der Erinnerung und Phantasie. Es war doch Wirklichkeit, Augenblick, Kostüm und Rhythmus, Atemzug und Pulsschlag,. die Art des Lebens, Licht, Farbe und Geschmack. Bis zum längst zu Tode gesungenen Schlager, zu Redewendungen und Ausdrücken, wie sie niemand mehr verwendet, bis zur damals uns erzählten Erinnerung jener älteren Generation.

Es war Zufall gewesen, daß er gerade dieses Gasthaus betreten hatte, anonyme Tankstelle von Alkohol und Geselligkeit wie tausend andere in der gleichmachenden, namenlos existieren lassenden Stadt. Das vom Wein beflügelte Volk der Amtsgehilfen und Rentner, der Firmenboten und Portiere herrschte hier vor, mit Frauen, welche die Zeit und ein Leben der Banalität arg zugerichtet hatten. Einrichtung, Bedienung, die Tafel „Nicht auf den Boden spucken!“, Reklamen, kleingedruckte Verordnungen der Polizei unter Glas im Rahmen, dilettantisch auf die bloße Wand gemalte triste Scherze um heimwärts schwankende Zecher in abscheulichen Farben. Fast immer dasselbe.

Müde vom Herumgehen und in Gedanken hatte er sich in einer Ecke auf die einsame Holzbank gesetzt, Bier bestellt und gewohnheitsmäßig zu registrieren begonnen. Die Häßlichkeit des Ganzen traf ihn mit voller Wucht. Im Nebenraum hatte zu allem Überfluß eine Musikbox zu grölen begonnen, und er bereute schon den Impuls, der ihn in das Tohuwabohu geführt, als mit einem Mal aus dem Lärm ein Satzfetzen aufgeflattert war, der sich einkrallte in sein Bewußtsein: „Damals, wie's den Dollfuß um'bracht ham ... die Naaazi...“

Es hatte genügt, alles zurückzubringen. Das andere hatte sich sogleich im wüsten Gekreisch einer Streiterei verloren, die ihn aber nicht mehr erreichte..

Er war der Sohn eines kleinen Beamten, in einer Stadt, die bereits die Grenze der Hunderttausend überschritten hatte. Sie waren nicht, was man „arm“ nannte, wenn auch nicht einmal wohlhabend, und es hätte wohl auch zu einem Ferienaufenthalt für ihn gereicht. Doch war seine Mutter eine nüchtern denkende Frau, „praktisch“, wie sie es nannte. Die Existenz wohlhabender, kinderloser Verwandter hätte sie niemals ungenützt gelassen. Die Schwester ihres Mannes, mit einem ehemaligen Offizier verheiratet, der sich gelegentlich als Grundsrückmakler betätigte — immer mit Gewinn —, sollte nicht umsonst zu ihrem Neffen eine besondere Zuneigung gefaßt haben. In ihrer Villa am Stadtrand mit dem großen Garten war „Platz genug für den Buben“ — und man hatte ihn einmal wochenlang vom Hals. Er war freilich ein mehr in sich gekehrtes Kind, und er litt unter de;:..Habgier seiner Mutter, Er. spürte es, wenn er,zur Last fiel und es, war- ihm verhaßt. Seine Mutter, für.-derlei Empfindungen nicht gemacht, pflegte ihn indes jeweils am ersten Ferien-' sönnttg.'-rriit Wäsche-urid“Kleidung5 hirfteichend ausgestattet,- h» Onkel und Tante abzuladen und sich nach Ermahnungen und guten Lehren verdächtig rasch zu verabschieden. Die Villa am Stadtrand, am Südabhang der Randberge, hinter der sich Weingärten fast bis zur Kammhöhe erstreckten, von Heurigen-schänken und Sommerhäusern umgeben, war ein Paradies — und wie ein solches vermutlich — für den Zehnjährigen langweilig. Die beiden Leutchen, gerade über die Fünfzig, bemühten sich redlich, wußten ihn indes nicht lange zu beschäftigen. Er durfte dem Onkel bei der Gartenarbeit zusehen und die Tante beim Kochen und bei der Hausarbeit bewundern. Er verkleidete sich abwechselnd als Türke, Seeräuber oder Indianer. Aber allein freute ihn das nicht lange, und die Gesellschaft der letzten paar

Bauernkinder in der verstädternden Gegend scheiterte an gegenseitiger, unerklärlicher Zurückhaltung. Er durfte schließlich über die Bibliothek im kühlen, in Ebenholz eingerichteten „Herrenzimmer“, wo über dem Schreibtisch des Onkels ein Ölporträt hing, das ihn als jungen Mann in k. u. k. Oberleutnantsuniform zeigte — „Oberstleutnant“ sagte die Tante gerne im Gespräch, sich mit Behagen „irrend“. Dort las er Sven Hedin, Karl May und auch medizinische Aufklärungswerke und erotische Romane, • an deren Inhalt sich die Tante wohl nicht mehr so genau erinnerte, oder die sie ihm in einem Anflug von aufklärerischer Großmut zukommen ließ, die in seinem Alter freilich reichlich verfrüht war. Unwiderstehlich zog es ih dann bald zu den Nachbarn, Kleinbauern, wo er im Stall, auf dem Heuboden, beim Ernten auf dem Feld dabei war und den ganzen ländlichen Tagesablauf erlebte. Die Tante verzog die Nase, wenn er abends verschwitzt, schmutzig und hungrig heimkam — einmal war er sogar im Kuhstall ausgeglitten und der Länge nach in die Abflußrinne gefallen —, und wusch ihn mit lächelndem Interesse für seine schlanke Knabenhaftigkeit von Kopf bis Fuß. Dann wurde er in ihren viel zu großen Schlafrock gehüllt, gefüttert und auf einem Diwan, auf dem man Bettzeug ausgelegt hatte, schlafen gelegt. Da er meist — für Onkel und Tante unangenehm — früh erwachte, durfte er am Morgen dann noch ins Schlafzimmer kommen, das mit hellen Mahagonimöbeln eingerichtet war, in dem ein großer Perserteppich lag, und wo an der Wand in breitem Goldrahmen das „Brautgemach“ aus „Lohengrin“ hing. Man ließ ihn in den Ehebetten zwischen Onkel und Tante unter die Daunendecke, und die Tante setzte ihm die schwarzen Kopfhörer auf, in denen man leise Musik oder Reden vernahm.

Sie waren an einen Detektorapparat angeschlossen, der aus einer Spule mit schwarzer Drahtwicklung, einem Kondensator und einem Stückchen Bergkristall bestand, auf welchem ein blankes Drahtende saß. Das alles war auf einem kleinen Brettchen frei montiert, und man konnte, wenn man damit umzugehen verstand, was nicht allzu schwer war, den Ortssender einwandfrei bekommen. Niemand war dabei gestört, wenn man genug hatte, brauchte man nur die Hörer abzunehmen — und oft schlief man damit ein, was keine Rolle spielte.

So verging die Zeit bis zum ausgiebigen Frühstück am weißgedeckten Tisch in der kleinen Veranda, wo man in Korbsesseln saß, die die Katzen beim Krallenschärfen ruiniert hatten, und weit in die im Horizont verblauende Ebene hinausblicken konnte.

Eines solchen Morgens war er nun wieder ins Schlafzimmer getreten und hatte Onkel und Tante in großer Erregung angetroffen. Kaum, daß sie seinen Morgengruß erwiderten. Die Tante hatte ihm unter Tränen gesagt: „Der Kanzler ist tot. Ermordet von den Nazi!“

Er hatte nicht sehr gut begriffen, was das wirklich hieß, aber das Bild des kleinen Mannes in der Kaiserjägeruniform mit dem Spiclhahnstoß an der Kappe und dem grauen Umhang war in ihm, Auf gediegen. Y/.ie er es von Plakaten her kannte, .»Seinem Vater ürde es vielleicht recht sein, dachte er einen Augen-■ blick.aind sah ihn vor sich, wie er tms EeirUat -des selben Jahres das kleine rote Büchlein mit den vielen eingeklebten färbigen Marken und den beiden Händen auf dem Einband um den Stiel eines aufrecht stehenden Hammers aus der Tischlade geholt, lange betrachtet und schließlich, mit Tränen in den Augen, in Stücke gerissen und dann im Ofen verbrannt hatte

Draußen klapperten die Windräder, oben am Hang in den Weingärten, in dieser Gegend „Klapoteza“ genannt, und die Tante weinte, ihr dickes Gesicht war gerötet und verschwollen. Der Onkel drehte eifrig am Kondensatorknopf. Er war blaß und horchte mit geschlossenen Augen. Als er schließlich zu den beiden ins Bett gekrochen war, drückte ihn die Tante, sich selber tröstend, an ihren riesigen Busen. „Feiglinge“, hatte der Onkel

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