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Das einsame Kind

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Nicht die sind mit den Einsamen gemeint, denen ein unerbittliches Schicksal die Eltern genommen und sie nun allein gelassen hat. Gemeint sind die anderen, die scheinbar wohlumhegt im Kreise ihrer Familie Lebenden, die mit allen Hilfen für leibliches und seelisches Gedeihen Betreuten. Von ihnen sind manche zu der entsetzlichsten aller Einsamkeiten verdammt, zu einem bis zur stummen Qual gesteigerten Alleinsein. Denn gerade die Besten unter ihnen verurteilen sich zu völligem Schweigen; wie zur Bu-

ße für ein nie begangenes Verbrechen, eine nie begangene Sünde.

Solch einen einsamen Knaben .habe ich gekannt, ich bin neben ihm hergegangen von den Tagen frühester Jügend an bis an die Grenzen beginnenden Mannesalters.

Wir haben mitsammen gespielt und uns unseren spielnahen, kindlichen Leidenschaften hingegeben, der Leidenschaft des Schmetterlinge- und Käfersammelns etwa oder des Angelns im Forellenbach. Und ich dachte nicht anders, als daß er die gleiche Freude und Zufriedenheit dabei empfinde wie ich selbst. Er empfand sie auch, gewiß, sonst wäre er kein rechtes Kind gewesen. Aber wie durfte ich ahnen, daß alles das, was ich selbst aus reiner Lust daran betrieb, ihm zugleich eine Flucht aus dem Alleinsein bedeutete, ein sicherlich seinem Erkennen entzogenes Mittel, einen Ausweg?

Wir suchten auf der Bergwiese nach Heuschrecken, um sie für den Forellenfang als Köder an den Haken zu spießen, wir formten uns daraus, weil wir zur wirklichen Jagd noch zu klein waren, eine Art von Jagd auf Niederwild und ergötzten uns daran, wie eben nur Kinder sich ergötzen können. Aber indes meine Freude mich ganz ungetrübt, ganz voraussetzungslos erfüllte, verbiß mein Spielgefährte sich in sie, sie nahte sich ihm nicht von ungefähr, er jagte wahrhaft nach ihr, er klammerte sich an sie, damit sie ihm nicht entgleite, ihn nicht in die Einsamkeit zurückstoße.

Nur wenige Stunden war es her, seit er mit einem Schul- oder Geschichtenbuch unter der Vorlaube des Herrenhauses gesessen hatte und neben ihm, über eine Handarbeit gebeugt, die Mutter. An sie trat der Vater, sich leise anschleichend, von rückwärts heran und blies ihr scherzend ins Genick oder griff ihr vielleicht auch zärt lich ins Haar. Die Mutter aber drehte sich nicht, die überraschte spielend, mit einem Lächeln nach ihm um, sie knüllte die Handarbeit wütend zusammen, schleuderte sie zu Boden und lief, die Lippen im zornig verzerrten Gesicht hart aufeinandergepreßt, wie gehetzt ins Haus. Da verzerrte auch das Gesicht des Vaters sich aus verwunderter Enttäuschung zu zuckendem Zorn, er verließ die Vorlaube und eilte durch den Garten in den Wirtschaftshof, wo er hinter dem Stallgebäude verschwand. Und der Knabe, derselbe Knabe, der im Park an der jenseitigen Berglehne die Bartnelke gefunden, der auf der Rasenböschung am Straßenrand auf die Postkutsche gewartet hatte, blieb fassungslos zurück.

Was da geschehen war und warum es geschehen war, wußte er nicht. Aber es mußte etwas Furchtbares gewesen sein, etwas, was ihn in eine grauenvolle Einsamkeit verbannte.

Oder wir wateten am Nachmittag, wenn die Sonne das Wasser gut vorgewärmt hatte, im seichten Bachgerinne hinter der Brettsäge und hoben die hohlliegenden Steine auf, um darunter nach den breitköpfigen Koppen mit den stacheligen Kiemen zu suchen.

Während des Mittagsbrotes an diesem Tag war wieder etwas Furchtbares, ihm noch immer Unentwirrbares, geschehen. An jenem Tag machte der Vater, an der Mutter vorbeiblickend, eine auf sie abzielende hämische Bemerkung, eine Bemerkung, durch die er sich freilich eine arge Blöße gegeben haben mochte. Denn nach dieser Blöße hackte nun die Mutter, ebenso an ihm vorbeiblik- kend, wie er zuvor an ihr vorbeigeblickt hatte, und gleichsam in den leeren Raum hineinredend.

Da brüllte der Vater, ein jähzorniger, unbeherrschter Mann und unduldsam gegen jeden Widerspruch, am unduldsamsten, wenn er sich im Unrecht fühlte, wild auf wie ein gereiztes Tier und schmetterte sein Trinkglas auf die Erde, daß es klirrend zu Scherben zerschellte. Die Mutter rückte ihren Sessel zurück, sprang auf und verließ schweigend das Speisezimmer, so wie sie damals schweigend die Vorlaube verlassen hatte. Und der Vater, nachdem er alle ein kurze Weile drohend beobachtet hatte, vollendete die Mahlzeit, von der Anerkennung seiner Schweigen gebietenden Macht vollauf befriedigt.

Was blieb dem Knaben anders übrig — obwohl seine Hände und sein ganzes Inneres wie im Fieber bebten —, als die Bissen hinunterzuwürgen, sich still ins Freie zu schleichen und an der Berglehne ins Buschwerk zu verkriechen, in

Vor hundert Jahren, am 16. Juli 1883, ist in Lautschin, Bezirk Jungbunzlau, in Böhmen der Erzähler und Dramatiker Franz Nabl geboren

— ein Stiller, ein Einsamer, dessen Lebenswerk auf Leser und auch auf die jüngeren Schriftsteller immer stärker wirkt. Zutreffend nannte ihn Joachim Schondorff einen „österreichischen Fontane“.

• Bekannt wurden vor allem seine Romane „Ödhof“ und „Die Ortliebschen Frauen“. An Nabls Geburtstag soll die

— gekürzte — Wiedergabe seiner zwischen 1958 und 1962 entstandenenErzählung„Das einsame Kind“ erinnern.

die trostloseste Einsamkeit, auch er ein Tier, doch kein wildes und unbeherrschtes, nein, ein krankes und sterbensmüdes.

Von all diesem Elend erfuhr ich viel später, als wir beide schon unserer Kindheit entwachsen waren und eine letzte trennende Mauer in unserem Verkehr überstiegen hatten. Freilich noch immer vor der Zeit, in der es ihm gegeben wurde, auf eine andere befreiende Weise sich mit seinem Geschick auseinanderzusetzen.

In diesen Jahren des Überganges gewissermaßen und der Vorbereitung auf das ihm zugemessene Tagwerk sprach er mit mir über Vergangenes. Und wie einsam er als Kind gewesen war, wie schrecklich einsam, das begriff ich jetzt aus seinen stockenden Andeutungen und bebte davor zurück, wie vor einer überstandenen und im Augenblick ihrer Überwindung noch gar nicht erkannten Gefahr.

Er erzählte von dem seltsamen, ihm unerklärbaren Verhalten der Eltern unter der Vorlaube des Herrenhauses und dem ebenso unerklärbaren, roh-lärmenden Auftritt während des Mittagsbrotes. Wie er wohl geahnt habe, es müsse etwas Entsetzenerregendes und aus etwas Entsetzlichem Herstammendes gewesen sein, und wie er hilflos in sich selbst und in seinem Umkreis nach Ursachen, nach Zusammenhängen gesucht habe. ,

Und wie er von da an in unbesiegbarer Angst vor neuen, rätselhaften Feindseligkeiten zwischen den Eltern geschwebt habe und wie solche sich wirklich noch manchmal ereignet hätten. Und wie dann dem reifer Werdenden langsam die Erkentnis einer Schuld mit herangereift sei, einer üblen Schuld des Vaters und einer — vielleicht — geringeren Schuld der Mutter und wie er nun in diese Schuld hineinverstrickt worden sei, denn zuletzt habe er sich, von der doch nur weicheren und nachgiebigeren Mutter mehr angezogen als von dem unerbittlich harten und abweisenden Vater, auf ihre Seite gestellt und ihr zu Gefallen allerlei am Vater entdeckte Schwächen und Fehler verhöhnt und nachgeahmt, um billigen Beifall damit zu ernten an Stelle eines wohlverdienten Tadels.

Als endlich die Stunde vermeintlicher Erlösung schlug, als die Eltern sich, eine gesetzliche Scheidung meidend, trennten, da sei es wohl anders geworden, aber kaum besser in ersehntem Ausmaß.

Das Neue und andere, das jetzt auf ihn zukam und auch den älter Gewordenen wiederum in eine zum Schweigen verdammte Einsamkeit trieb, das empfand er ebenso bitter wie die kaum gebrochene Einsamkeit der früheren Kinderjahre. Gerade durch die als Befreiung begrüßte Trennung der Eltern wurde diese Last geschaffen und auf seine Schultern gelegt. Das Auseinandergehen von Vater und Mutter galt nach außen hin so gut wie eine gerichtliche Scheidung, und die wog damals in den Augen der Welt und der Gesellschaft sehr schwer. Sie setzte die von ihr Betroffenen herab, und daß man diese Herabsetzung nicht plump fühlen ließ, daß man sie unter kühler, höflicher Zurückhaltung verbarg, das machte sie nicht leichter tragbar.

Nun hemmten die neu über ihn geworfenen Fessseln Seinen Fuß schon beim ersten zaghaften Schritt, seine Hand beim ersten zögernden Griff.

Hinter ihm aber reckte sich, drohend und lockend zugleich, eine Gefahr auf, eine Gefahr, die ihm die Arme entgegenbreitete, in die er sich hineinwerfen konnte, ohne daß die harten Ketten ihn zurückgerissen hätten. Die Gefahr, sich preiszugeben, zu ertrinken in betäubendem, wohlfeilem Rausch. Wer dürfte ihn darum schelten, wer ihn darum verachten?

Wie er dieser Gefahr zu entrinnen vermochte, darüber hat er nie mit mir gesprochen, aber ich wußte, daß er ihr entronnen war. Ob durch eigene Kraft allein, oder weil doch ein helfendes Wort, eine stützende Hand ihm beschieden wurde, das ändert nichts an dem Ablauf der Dinge, nichts an dem gewonnenen Preis. Und nach einem solchen Wort zu horchen, nach einer solchen Hand auszuspähen und sie erkennend anzunehmen, wenn sie geboten wurden, blieb immerhin ein kleines, eigenes Verdienst. Vielleicht wehte im rechten Augenblick der Duft einer Bartnelke an ihm vorbei oder das Bild eines über der Blüte gaukelnden schönen Falters, vielleicht sprach, gerade als es an der Zeit war, die Stimme eines geliebten Lehrers zu ihm — was immer es gewesen sein mag, auch über ihm hat aus allem nächtlichen Dunkel der Glanz eines Sterns aufgestrahlt. Und was schadet es, wenn ein solcher Stern auch schon erloschen ist? Sein Leuchten erreicht uns noch, erreicht uns alle, und wehe dem, der seine Augen vor ihm verschließt.

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