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Immer wieder Prager Frühling

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Wieder einmal bin ich in Prag. Man schreibt die zweite Hälfte des Juni. Ich stehe eines Abends oben auf dem Hradschiner Platz. Und da erlebe ich einen jener Augenblicke, die man nur in Prag erleben kann, wenn man es sehr gut kennt. Es ist halb acht Uhr. Auf dem Platz befindet sich kein Mensch außer den zwei regungslosen Wachtposten vor dem Portal zur Burg. Ein ganz leiser Regen hat eingesetzt. Ein Frühlingsregen. Denn in Prag hat eben erst der Frühling begonnen. In diesem Land reift alles spät, die Natur und auch die Menschen. In Wien ist der Flieder längst verblüht und ebenso die Kastanien. Hier beginnt der Flieder erst ganz zart zu sprießen: Die Naturwissenschaftler haben längst den Beginn der Blüte des Flieders als den echten Beginn des Frühlings bezeichnet, unabhängig von jedem astronomischen Früh-linigsbeginn. Und hier in Prag beginnt in der zweiten Hälfte des Juni erst der Flieder zu blühen. Der Frühling bricht ganz zart an.

Ich stehe vor dem Portal des Erzbischöflichen Palais, gegenüber/ den Palästen der Salms und Schwarzenbergs. Ich bin ganz allein. Aber plötzlich kommt; ein alter Mann und beginnt den achtarmigen, gußeisernen Gaskandelaber vor der Fassade des Erzbischöfflichen Palais anzuzünden. Das gibt es noch in Prag, was Wien längst abgeschafft hat: Gaslaternen. Als der Mann mit seiner Arbeit fertig ist, geht er langsam entlang der Kanonikerhäuser und entzündet gemächlich eine Gaslaterne nach der anderen. Ich gehe ihm nach, an den Kanonikerhäusern vorbei, dann an der Fassade des Toskana-Palais, am alten Hradschiner Rathaus, unter den Laubengängen zum Pohofelec fast bis zum Czemin-Palais. Es beginnt stärker zu regnen und ich bleibe unter den Arkaden stehen. Gleich neben dem Gasthaus „Zum weißen Ochsen“.

Ein paar Arbeiter kommen aus dem Gasthaus, leicht betrunken. Denn der Alkohol, dieser Tröster aller Hoffnungslosen und Verzweifelten, spielt wieder eine enorme

Rolle in diesem Land. Alle Gaststätten sind überfüllt, denn das Bier ist gut und billig und der Wein aus Südmähren und der Slowakei ist ebenfalls gut und billig. Was sollen Menschen schon tun, deren einzige Sehnsucht noch ist, einmal eine Reise in die freie Welt zu tun, und die ebenso wissen, daß ihnen dieser Wunsch so gut wie niemals erfüllt werden wird, als mittels des Alkohols eine Wunschreise in ein Traumland zu tun? „1968 war ich da einziges Mal in meinem Leben in der freien Welt“, sagte ein kleiner Pfarrer zu mir, „aber einmal werde ich noch eine Reise in die Freiheit unternehmen, an der mich niemand hindern kann: die Reise in die Ewigkeit.“

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Gegenüber von meinem Standort befindet sich eine große Nische, in der eine barocke Heiligenfigur steht. Sie ist ganz verfallen, so daß man nicht einmal ausnehmen kann, ob es eine Figur des hl. Johannes von Nepomuk, der hl. Ludmilla oder des hl. Prokop ist. Wer heute durch die böhmischen Länder fährt, wird immer wieder ein für mittel- und westeuropäische Begriffe unfaßbares Phänomen erleben: das Verfallen von prachtvollen Städten, Palästen und Häusern. Aber wahrscheinlich haben die Städte nach der Hussiten-zeit und nach dem 30jährigen Krieg ähnlich ausgesehen, wie sie heute sich darbieten. Denn das Land lebt sozusagen in einem neuen 30jährigen Krieg. 1938 raubte Hitler den böhmischen Ländern die Randgebiete, 1939 wurden sie zur Gänze besetzt. Seit 1948 gehören sie zur östlichen Welt. Und die östliche Welt hat das Land so straff an die Zügel genommen, wie es Hitler zweifellos tat, aber niemals die Habsburger. „Wünschen wir uns nicht den Zerfall der Habsburger-Monarchie“, hatte Masaryk in den neunziger Jahren gesagt, „denn dann fällt entweder Böhmen an Deutschland oder an Rußland.“ Aber wider dieses bessere Wissen hat er die böhmischen Länder aus dem Verband des Donaureiches gerissen und das Schicksal, das er salbst prophezeit hatte, vollzog sich innerhalb von zehn Jahren nach beiden Seiten. 1938 fiel Böhmen den Deutschen anheim, 1948 Rußland.

Die schönsten Städte des Landes zerfallen, die schönsten Paläste, die schönsten Häuser. Aber die Schönheit dieser Städte, dieser großen Plätze mit ihren Laubengängen, die man sonst kaum je in Mitteleuropa findet, die Schönheit dieser Kirchen und Paläste ist so stark und ihre innere Schönheit so unzerstörbar, daß sie die Machthaber zwingen, ob sie wollen oder nicht, dem Verfall Einhalt zu gebieten. Halb Prag ist eingerüstet und wird renoviert, langsam, sehr langsam. In den kleinen Städten wie Budweis oder Königgrätz sind vielfach schon die schönen großen Plätze wieder instand gesetzt und nur in den Seitengassen wird dem Verfall noch nicht Einhalt geboten. Auch Kirchen werden renoviert, diese vielfach, wenn sie kunsthistonische Juwele sind, in bevorzugter Weise, ebenso wie Schlösser. Denn diese kunsthistorischen Juwele sind die großen Attraktionen für die Fremden aus dem Westen. Und Fremde aus dem Westen bedeuten Devisen, und nichts benötigit das Land mehr als Devisen. Die Schönheit der Steine zwingt die Machthaber, ihre Schönheit zu erhalten. Und wenn ich das nächste Mal in Prag sein werde, dann wird vielleicht auch diese Heiligenfigur, die sich mir gegenüber befindet, schon renoviert sein, und man wird erkennen, ob es der heilige Johannes von Nepomuk, die heilige Ludmilla oder der hl. Prokop ist.

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Der Regen ist stärker geworden und mein Gaslaternanziünder ist verschwunden. Langsam gehe ich unter den Lauben zum Hradschiner Platz zurück, der nach wie vor menschenleer ist, heimelig beleuchtet von den Gaslaternen. Hier, in den Kanonikerhäusern, gibt es ein kleines, schönes Restaurant, den „Schwan1'. Hier hat man immer gut gegessen. Die wenigen Tische sind besetzt von lauter Jugendlichen. Junge Mädchen und junge Burschen. Diese junge Generation Böhmens ist im heutigen Europa ein Phänomen. Sie kennt kaum etwas von der freien Welt und sie interessiert sich kaum für Politik. Oder richtiger gesagt, sie interessiert sich in ihrer Weise für Politik. Alle diese Jugendlichen könnten sicherlich ein viel besseres Leben haben, wenn sie der Partei, natürlich der kommunistischen (denn es gibt offiziell auch noch andere), beitreten würden. Aber sie lehnen den Beitritt kategorisch ab. Auch wenn dadurch ihre Karriere Schaden leidet und ihr Einkommen noch minderer ist.

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„Ihr Mädchen seid wie Gärten“, hatte einst Rilke gedichtet und dabei sicherlich sowohl an die Prager Gärten wie an die Prager Mädchen gedacht. Als ich voriges Jahr bei der Frankfurter 'Riirhmessp war tvackte mich eines Sonntags der Schreck. Da kamen Hunderte und Aberhunderte von jungen Mädchen und Burschen, alle in Hosen, alle mit langen Haaren, alle schmutzig. Sie waren durchaus friedlich, aber ihre Ungepflegt-heit war erschreckend. Kaum konnte man unterscheiden, wer ein Männlein und wer ein Weiblein war, höchstens das Vorhandensein von Lidschatten oder die Existenz eines ungepflegten Bartes gaben einen Hinweis, wer vor einem stand. (Wobei mir in letzteren Fällen immer das Wort Schopenhauers einfiel, daß es unanständig sei, ein Geschlechtsmerkmal mitten im Gesicht zu tragen.) Aber die Prager Mädchen sind schöner denn je. Und nicht minder die jungen Männer. Die letzteren tragen kaum lange Haare, kaum einen Bart, und wenn ja, dann gepflegt. Und auch die Frauen, besonders die jungen, sind gepflegt und schlank. (Wie man sogenannte „böhmische Köchinnen“ ja immer viel eher in Wien antraf als in Prag.) Dank ihrer schönen lange Beine und ihrer Schlankheit können sie Hosen und Minimissimi-Röcke mit Anstand tragen. Während der Gang der Italienerinnen an das Gleiten von venezianischen Gondeln erinnert und der Stolpergang der Österreicherinnen — von Nichtkennern oft mit „Hatsohen“ verwechselt — entzückt, verrät der Gang der Pragerinnen eine ständig verhaltene Sehnsucht nach Tanz. Diese angeborene Musikalität und der Humor sind ja die zwei einzigen Unterschiede, die es zwischen den Tschechen und den Deutschen dieses Landes gab.

Diese Jugend in ihrer Schönheit ist ein einziger Protest sowohl gegen die Massivität des Ostens als auch gegen das schmutzige Äußere des progressiven Westens. Denn diese jungen Leute, die fast noch nie im Ausland waren, sehen natürlich die Menschen aus dem Westen in ihren schmutzstarrenden Kleidern, die nur zu sehr ein Ausdruck einer inneren Unordnung sind. Und sie lehnen diese Art des freien Westens vollkommen ab. Und ihre Schönheit ist ein Protest gegen den Osten. Denn sie sehen genug russische Offiziere in tadellos geschnittenen zaristischen Uniformen, die mit kalten und hochmütigen Blicken an ihnen vorbeigehen. Und sie sehen diese russischen Frauen, mit ihren gutmütigen und etwas furchtsamen Augen, bekleidet mit fürchterlichen Fähnchen, die irgendein Textilkombinat ausgespien hat, und mit Frisuren, die eher Disteln gleichen. Diese „zaristischen“ Offiziere und diese armen Russinnen sind für sie der Inbegriff des Ostens, und durch ihre Schönheit lehnen sie auch diesen ab. Diese Jugend in Prag ist vielleicht heute die einzige Jugend Europas, die vollkommen abendländisch und humanistisch denkt.

Der Aufstand von 1618 war keine Volkserhebung, er war der Aufstand einiger Kavaliere gegen das Haus Habsburg. Und auch der Prager Frühling „von 1968 war, zumindest im Anfang, der Aufstand einiger Apparatschicks. Aber der wahre Prager Frühling liegt unausrottbar über diesem Land. Die Schönheit der Steine und die Schönheit der Jugend des Landes wird immer wieder einen echten Frühling zum Blühen bringen. So wie der leichte Regen jetzt im späten Juni den Flieder sprießen läßt.

Es ist schon Nacht, als ich aus dem ,Schwan“ trete. Es gießt in Strömen. Aber diese Stadt ist so schön, daß sie auch im heftigsten Regen geliebt wenden muß. Ich komme zur Karlsbrücke, die menschenleer ist. Vom Hradschin blicken die angestrahlte Burg und der angestrahlte Veitsdom herab. Vor dem Marienbild, das am Haus auf der Kampa angebracht ist, brennt ein kleines Licht. Seit meiner Kindheit kenne ich dieses kleine Licht. Es brannte in der Republik Masaryks, es brannte unter Hitler, es brennt jetzt. Es wird immer brennen. Denn immer wieder wird es einen echten Prager Frühling geben.

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