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Der Schwanz der Katze

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„Die Denaturierung der Partei hat sie ihrer Hauptfunktion beraubt und statt dessen zu ihrer uneingeschränkten Herrschaft über das gesamte Leben geführt, was sicherlich viel einfacher war, aber der sozialistischen Idee ungeheuer geschadet hat — und dies nicht nur in der Tschechoslowakei. Die Denaturierung der Partei schuf auch jenes doppelgesichtige Wesen: das eine Gesicht für die offiziellen Versammlungen, das andere für das Privatleben und die Freunde. So läßt man im Volk Gleichgültigkeit aufkommen; es entsteht ein Klima des Verrats, des uneingestandenen Verdachts und der Angst, statt eines freien Meinungsaustausches in den Gliederungen der Partei, den Gewerkschaften, den Jugend- und Frauenorganisationen und in der Presse...“

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„Die Denaturierung der Partei hat sie ihrer Hauptfunktion beraubt und statt dessen zu ihrer uneingeschränkten Herrschaft über das gesamte Leben geführt, was sicherlich viel einfacher war, aber der sozialistischen Idee ungeheuer geschadet hat — und dies nicht nur in der Tschechoslowakei. Die Denaturierung der Partei schuf auch jenes doppelgesichtige Wesen: das eine Gesicht für die offiziellen Versammlungen, das andere für das Privatleben und die Freunde. So läßt man im Volk Gleichgültigkeit aufkommen; es entsteht ein Klima des Verrats, des uneingestandenen Verdachts und der Angst, statt eines freien Meinungsaustausches in den Gliederungen der Partei, den Gewerkschaften, den Jugend- und Frauenorganisationen und in der Presse...“

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Vierzehn Mitglieder einer Musikgruppe sitzen seit März im Prager Pankrac-Gefängnis. Vom 30. August bis 6. September sollte ihnen der Prozeß gemacht werden — aber er wurde im letzten Augenblick verschoben. Vermutlich wegen der internationalen Aufmerksamkeit, die er schon jetzt erregt. Als schuldig gelten die Inhaftierten längst, denn seit den frühesten Tagen kommunistischer Justiz gut die Verhaftung als der wichtigste Schuldbeweis.

Was sind nun die Vergehen, derentwegen diese Künstler vor Gericht stehen sollen?

„Allgemeine und organisierte Verunsicherung der Gesellschaft gemäß § 202, Abs. 1 und 2“ lautet die Anklage. Laut Anklageschrift haben die Künstler an Veranstaltungen teilgenommen, durch die „Geringschätzung der kommunistischen Gesellschaft“ und „Verachtung der kommunistischen Moralgesetze“ zum Ausdruck kam. Das Abweichen vom Pfad der Tugend zeigte sich besonders drastisch an der Verwendung vulgärer Ausdrücke, im Englischen nennt man sie „four-letter-words“.

Die Beweislast gegen die Angeklagten ist erdrückend. Nicht weniger als elf staatsmoralgefährdende Veranstaltungen wurden seit 1971 gezählt. Erschwerend kommt dazu, daß die Angeklagten durch raffinierte „Tricks“ versucht haben, das Auge des Gesetzes zu täuschen. Sie tarnten nämlich ihre subversiven und antisozialistischen Veranstaltungen als Familienfeste — wie etwa Hochzeiten — oder als künstlerische Veranstaltungen. Als besonders Schümm wird von der Anklage angesehen, daß die Delinquenten (deren Ältester 34 und deren Jüngster 21 Jahre alt ist) sich mit Vorliebe an junge Menschen wandten, die im Sozialismus und seiner Tugendlehre noch nicht die wünschenswerte Fe-

stigkeit besaßen, die antisozialistischer Indoktrination und reaktionären Einflüsterungen deshalb noch zugänglicher waren.

Die Angeklagten sind Mitglieder oder nahe Freunde zweier Popgruppen, der „Plastic People of the Universe“ und der „Diagnose 307“. Die Wurzeln der modernistischen Schlechtigkeit reichen in jene Zeit zurück, die der vor der endzeitlichen Vollendung stehende Sozialismus der Prager Gegenwart mit allen Mitteln ausrotten und bis in die Erinnerung der Menschen hinein vernichten möchte: in den Prager Frühling vor dem 21. August 1968, Damals begeisterte sich die Jugend für die westliche Beat- und Popmusik, es begannen sich Gruppen (wie „The Swim-mers“ oder „The Undertakers“) nach westlichem Muster zu bilden. Pop, Jeans, die englische Sprache, längeres Haar und hin und wieder ein Bart — Prag glaubte so den Anschluß an westliche Großstädte zu finden. Bis dieser modernistischen Seuche mit brüderlicher Hilfe der verbündeten Staaten im August 1968 ein Ende gesetzt wurde. Ordnung, Zucht und Stille kehrten ein, man war wieder unterwegs vom Sozialismus zum Kommunismus.

Die Popgruppen/ die verwestlicht waren, hatten zwei Möglichkeiten: sich anzupassen, um weiterspielen zu können (was viele taten) oder in den Untergrund zu gehen.

Die „Plastic People of the Universe“, 1968/69 von Milan Hlavsa (früher bei den „Undertakers“) gegründet, wählten den Untergrund. Sie waren schon vor dem eisigen August, der dem Prager Frühling ein Ende setzte, eher dem Underground denn dem etablierten Musikgeschehen zuzurechnen. Sie orientierten sich an Vorbildern wie Frank Zappa und seinen „Mothers of Invention“ (aus dessen Dunstkreis auch der Name der Band kam) und der War-hol-Gruppe „The Velvet Underground“. An den amerikanischen Underground erinnert auch, daß sie nicht bloß Musik machten, sondern ihre Aufführungen zu Happenings ausbauten. So opferten die „Plastic People“ bei der Erstaufführung ihrer Nummer „Weltallsymphonie“ in Prag dem Gott Mars eine Henne, ein andermal verbrannten sie fliegende Untertassen.

Zu Beginn der siebziger Jahre nahm sich die Regierung verstärkt der jungen Künstler an. Englische Songs wurden verboten, englische Gruppennamen ebenfalls. Aber die „People“ kümmerten sich nicht um die neue Linie. Sie verzichteten auf große Konzerte und Auftritte bei konzessionierten Veranstaltungen.

Seit einiger Zeit zählen Polizisten zu den treuesten „Fans“ der „Plastic People“, für die Musik und Lebensstil immer untrennbarer zu einer Einheit wurden. 1974 kam es in Bud-

weis zu einer großen Polizeiaktion: ein Großaufgebot von Polizisten, unterstützt von einer Hundestaffel, prügelte sich durch eine Veranstaltung der „Plastic People“, es gab ein paar Festnahmen und Ordnungsstrafen. Regelmäßig wurden Besucher solcher Veranstaltungen überprüft, Namen wurden notiert.

Ähnlich verhält es sich mit der Gruppe „Diagnose 307“, kurz „DG

307“, die 1973 entstanden ist. „Diagnose 307“ bezog ihren Namen aus der Psychiatrie. Nach amtlicher Bezeichnung bedeutet in der CSSR die 307. Diagnose jenes Krankheitsbild, das durch psychische Störungen entsteht, die infolge langanhaltender Konfliktsituationen auftreten. „DG 307“ ist noch aggressiver und direkter als die „People“. Beide Gruppen treten gegen die Anpassungszwänge und die Gleichmacherei in der tschechoslowakischen Gesellschaft auf, in der alles, auch die Kunst, auf eine staatlich sanktionierte Norm reduziert ist und in der primitiver Konsum- Materialismus jede eigenständige geistige Regung erstickt.

In letzter Zeit hatte sich in den Auftritten der beiden Gruppen im Rahmen von Hochzeiten und privaten Veranstaltungen vor ein paar Freunden eine neue „Unordnung“ und „Unmoral“ breitgemacht: etwas wie Religion. Das „Opium des Volkes“ wurde unter anderem von einem evangelischen Geistlichen eingeschleppt, Svatopluk Karasek mit Namen. Karasek hat zwar nicht die schönste Stimme, aber da er besser singen als predigen kann, wie er selbst sagt, singt er eben. Seine Lieder — Spirituals und Gospelsongs, durchsetzt mit bodenständigen Elementen — sprechen viele Jugendliche an, unter denen trotz — oder wegen?

— der staatlich-atheistischen Sozialisation eine neue Religiosität aufbricht. Svatopluk Karasek wurde am 17. März verhaftet.

Weitere Angeklagte wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses sind der genannte Milan Hlavsa (Komponist und Baßgitarrist, Mitglied bei den „People“ und bei „DG 307“), Josef Janicek (Bandleader der „Plastic People“), Vratislav Brabenec (Altsaxophonist bei den „People“), Pavel Zajicek (Textdichter, „DG 307“), und Karel Soukup (Sänger). Sie alle haben so sehr öffentliches Ärgernis erregt und gegen die Moral verstoßen, daß sie seit dem 17. März festgehalten werden.

Sieben weitere Angeklagte wurden ebenfalls am 17. März 1976 festgenommen, nach Verhören aber bis zum Beginn des Prozesses wieder auf freien Fuß gesetzt. Es sind dies: Jifi Kabes (Geiger bei den „People“), Jaroslav Vozniak (Drummer bei den „People“), Jaroslav Kubal, Pavel Ze-man, Vladimir Vysln, Jan Kindl und Ottokar Michl (alle von „Diagnose 307“)'. Gegen zwei weitere Personen, Zdenek Fiser und Zdenek Vokaty war ursprünglich Anklage erhoben, . später aber zurückgezogen worden.

Alle diese Angeklagten haben im Falle, daß sie für schuldig befunden werden, mit einer Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren zu rechnen: Beweis dafür, wie hoch die vollendete kommunistische Gesellschaft den Wert der „Moral“ und des „Anstandes“ einschätzt.

Für Ivan Jirous, der seit dem 17. März in Prag/Pankrac sitzt, könnte es noch schlimmer ausgehen, ihm drohen sechs bis acht Jahre. Jirous, von Beruf Kunsthistoriker und Publizist, ist Experte für Untergrund-Kultur und hat die meisten Veranstaltungen der beiden Gruppen organisiert. Ihm wurden zudem ungesetzliche Einkünfte in Höhe von 30.000 Kronen angelastet und der Versuch, dem friedenserhaltenden Militärdienst zu entgehen. Jirous

scheint somit zur Hauptfigur des Prager Prozesses zu werden.

Bereits am 5. und 6. Juli wurde in Pilsen unter Ausschluß der Öffentlichkeit ein Prozeß gegen drei Männer durchgeführt, die ebenfalls mit dem Untergrund und seiner Kultur zu tun haben. Es handelt sich in diesem Fall aber nicht um Musiker, sondern um einen Baumeister (Karel Havelka, 26), einen Tischler (Miroslav Skalicky, 24) und einen Waldarbeiter (Frantisek Starek, 24). Alle drei wurden verurteilt; Baumeister Havelka zu zweieinhalb Jahren, Tischler Miroslav Skalicky zu eineinhalb Jahren und Waldarbeiter Frantisek Starek zu acht Monaten Gefängnis. Und auch bei diesem Prozeß ging es um „Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung“.

Gefährdet wurden Ordnung und Sittlichkeit in diesem Fall durch einen Vortrag von Ivan Jirous über die Untergrund-Kultur; den Vortrag hatte Baumeister Havelka in Zusammenarbeit mit der sozialistischen Staatsjugend in Prestice organisiert. Die Veranstaltung ging im Beisein von 80 Jugendlichen in Szene, die Polizei störte kaum, kontrollierte nur Ausweise und notierte Namen. Der Tischler Skalicky hatte seinen Beitrag in der Form geleistet, daß er Einladungskarten entwarf. Er verwendete dafür ein Motiv, das er auf einem westlich-dekadenten Plattencover gefunden hatte: eine Klomuschel, aus der von innen zwei Hände greifen und den Rand festhalten. Der Waldarbeiter Starek hatte acht solcher Einladungen an Freunde weitergegeben und das erklärt wohl auch die acht Monate Freiheitsentzug.

Obwohl sich die Zeugen nicht erinnern konnten, während der Veranstaltung durch die Verwendung vulgärer Ausdrücke sittlich gefährdet worden zu sein, nahm die Staatsanwaltschaft diesen Tatbestand an. Und überdies, fand der Staatsanwalt, gehe es in diesem Fall nicht um irgendeine Musikrichtung, sondern um eine gezielte Aktion gegen die gesellschaftlichen Einrichtungen.

Der Prager Prozeß könnte als Schlußstein einer langen Kampagne gedacht sein, als entscheidender Schlag, der mit kultureller und sonstiger Unbotmäßigkeit aufräumen soll. Darauf deuten nicht nur die unverhältnismäßig hohen Strafen in Pilsen hin, sondern auch die Verunglimpfungen der Prager Angeklagten in den Medien.

Nachdem erste Nachrichten in den Westen durchgesickert waren, wurden die jungen Künstler in einer konzentrierten Kampagne als Drogensüchtige, Parasiten, Herumtreiber und psychiatrische Fälle diffamiert, es wurden ihnen Orgien und willkürliche Eigentumszerstörungen nachgesagt, man bemängelte, daß sie keine musikalische Ausbildung genossen hätten. Vera Jirousovä, die ehemalige Frau eines Angeklagten und selbst Kunsthistorikern!, hat diese Vorwürfe zurückgewiesen.

Die Betroffenen selbst haben noch nicht aufgegeben. Sie sagen: „Je stärker man einer Katze auf den Schwanz tritt, um so lauter wird sie schreien.“

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