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Hysterie in Prag

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Der junge Arbeiter aus Kolin bei Prag schüttelt trotzig die Faust: „Es ist uns völlig egal, wenn sie uns am Wenzelsplatz totschießen. Das macht uns nichts mehr aus!“

In der Tat ist in den Wochen vor dem 21. August die öffentliche Meinung in der Tschechoslowakei so erregt und radikalisiert wie kaum jemals zuvor.

Das Regime schaltet aber weiterhin auf stur: Das ZK-Mitglied Jirina Svorcova kündigte an, daß das Problem mit der Opposition am 21. .August „gelöst“ werden würde. Inzwischen wird in der Bevölkerung das Gerücht kolportiert, ein prominentes Regierungsmitglied habe gesagt, daß der Wenzelsplatz am kommenden Gedenktag „in einen Platz des Himmlischen Friedens verwandelt“ werden würde.

Das Regime wiederum verpaßt auch keine Gelegenheit, um die Spannungen anzuheizen. Kürzlich erschien in der Gewerkschaftszeitung „Praca“ ein Artikel über die diversen Gruppen der Opposition. Ausführlich wurde da über eine Gruppierung namens „Böhmischer Norden“ berichtet, die in ihrem Aktionsprogramm die Anwendung von Terror rechtfertigt. Diese Gruppe ist aber sonst völlig unbekannt. Politische Beobachter in Prag meinen daher, daß die Gruppe ein Konstrukt der Polizei sei, um die anderen oppositionellen Initiativen zu diskreditieren. <

Eine geradezu hysterische Kampagne wird derzeit in den Regimemedien gegen die Petition „Einige Sätze“ (siehe Kasten) geführt. Die Petition, die den „Sturz der Republik“ zum Ziel habe (laut „Rüde Pravo“), wurde am 29. Juni von verschiedenen Mitgliedern der Opposition gestartet. In den ersten vier Wochen haben schon mehr als 14.000 Personen unterschrieben. Die Verfasser der Petition geißelten in ungewöhnlich scharfer Form die Inkompetenz der Führung, „echte Reformen“ durchzuführen. Die Zeit für eine „friedliche Bewältigung der Probleme“ laufe ab, lautet die Warnung.

Trotz der Anwendung stalinistischer Einschüchterungs versuche verweigert diesmal die „Masse der Werktätigen“ den Gehorsam: Die lokalen Parteizellen verweigerten die Verurteilung der Petition, ohne den Inhalt vorher gesehen zu haben. Wenn ihnen der Text schließlich doch vorgelegt wurde, erklärten sich viele auch noch mit dem Inhalt solidarisch. Ähnlich bockig verhielten sich die Arbeiter in den Betrieben, die zur kollektiven „Verurteilung“ zusammengetrieben wurden.

Die Angstmacher bei „Rüde Pravo“ sind auch nicht gerade wählerisch bei ihren Methoden. Angeblich würden Personen, die die Petition auf Geheiß des Regimes verurteilt haben, physisch bedroht: Auf die Wohnungstüren der Verurteiler hätten „Rowdies“ mit Farbsprays Galgen und ähnlich Bedrohliches gesprüht. Es gibt aber deutliche Hinweise dafür, daß diese „Rowdies“ mit dem Segen von oben agierten. Eine billige Schmierenkomödie?

Die Opposition ist aber trotz der gewaltigen Hetzkampagne optimistisch. Sie hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, zumindest deren passive Sympathie, auf ihrer Seite. „Die Leute werden ungeduldig. Sie betrachten die Unterstützung der Petition als einen wichtigen Schritt in ihrem Leben“, meint Vaclav Havel, denn „nun können sie wieder aufrecht stehen.“

Der neue Wind in Moskau erfrischt auch die Gemüter bei unserem nördlichen Nachbarn. „Seit wir gesehen haben, wie es bei den Debatten im Kongreß der Volksdeputierten zugegangen ist, haben wir einfach keine Angst mehr“, erklärt ein Kulturjournalist aus Preßburg.

Anfang August erhob Alexander Dubcek warnend seine Stimme: Die Regierung solle ihren Kurs schleunigst ändern, sonst verlöre die KP ihre letzte Machtposition. Ein Seitenhieb auf die Doppelbödigkeit der gegenwärtigen Politik: „Man kann doch nicht gleichzeitig die .brüderliche Hilfe' von 1068 rechtfertigen und die Reformpolitik der Perestrojka begrüßen.“

Parteichef Milos Jakes und seine Gesinnungsgenossen verweigern aber jegliche Einsicht. In einem Gespräch mit einem spanischen Korrespondenten brüstete sich Jakes Ende Juli: „Wir brauchen keine Lektionen in Sachen Demokratie! Wir haben darüber unsere eigene Auffassung. Die Mehrheit derTsche-chen und Slowaken sind mit der Lage, wie sie ist, zufrieden.“

Für Dubcek steht außer Zweifel, daß der Moskauer Reformkurs die Genossen am Hradschin zur Mäßigung zwingt. Andernfalls „könnte es zu Blutvergießen kommen“. Die Herren in Prag und Preßburg sind nicht nur mit der zunehmenden Widerspenstigkeit der Bevölkerung, sondern auch mit der Parteibasis konfrontiert.

Ein Journalist und Aktivist des „Prager Frühlings“ kommentiert mit sichtbarer Schadenfreude: „Die Führung agiert schon lange getrennt von der Bevölkerung. Aber jetzt hat sie sich auch noch völlig von der eigenen Basis entfremdet!“

Im Frühjahr haben 200 Arbeiter aus Trenän einen Brief an die KP-Führung geschrieben, in dem sie die KPTsch aufforderten, „zu den Ursprüngen der Arbeiterbewegung zurückzukehren“. Die Partei solle sich weniger um die Erhaltung der Macht kümmern, sondern um die sozialen Anliegen des Volkes.

Im Februar gestand der ZK-Sekretär Frantisek Hanus, daß eine parteiinterne Meinungsumfrage ergeben habe, daß 30 Prozent aller Parteimitglieder „sich nicht sicher wären, ob sie der Partei wieder beitreten würden“. Dieser Umstand ist umso erstaunlicher, da seit 1069 hauptsächlich Karrieristen, für die moralische Skrupel nie besonderes Gewicht hatten, der KPTsch beigetreten sind.

Als ein weiteres sichtbares Zeichen der Entfremdung unter den Genossen haben jetzt dissidente Kommunisten eine eigene Organisationgegründet. Die Initiatoren von „Obroda“ (Wiedergeburt) sinnieren gerade darüber, wie sie ihre Vereinigung legalisieren können, ohne in die regimekontrollierte Dachorganisation „Nationalfront“ zwangsweise eingegliedert zu werden. Der ideologische Meister dieser „Kommunisten“ ist nicht Lenin,'sondern Zdenek Mlynaf. Als Vorbild gilt ihnen die italienische KP - und die überlegt ja zur Zeit, ob sie das Etikett „kommunistisch“ nicht lieber abtrennen sollte.

Jedenfalls: Die Mitglieder von „Obroda“ werden genauso wie die „Staatsfeinde“ von der Charta 77 von der Polizei verfolgt und verhaftet.

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