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Wie die hundert Blumen welkten

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Die mehrtägige Aussprache zwischen Chruschtschow und Mao beschäftigt die Weltpolitik und die Weltöffentlichkeit. In ihr dürfte neben der „Gipfelkonferenz“ und der weltpolitischen Koordination Chinas und der UdSSR auch das innenpolitische Problem Nr. 1 der kommunistischen Welt eine große Rolle gespielt haben. Da geht es also um die Frage des „Revisionismus“ und der „sozialistischen Einheit“, nachdem China mit dem Tage seines massiven Angriffes auf Tito zum Vorkämpfer des „harten Kurses“ wurde und sogar Chruschtschow in seine Kritik einbezog, als es jede Aenderung des „demokratischen Zentralismus“ in die Verbrechen der „revisionistischen Abweichungen“ einschloß.

In der Tat gibt es einen sehr triftigen Grund, der — um ein altes Wortspiel zu gebrauchen — China zwang, plötzlich „päpstlicher als der Papst“ zu werden. Die kurze Blütezeit der „100 Blumen“ löste nämlich eine Art Kettenreaktion aus, die das Land offenbar ernstlich erschütterte. Was sich wirklich im Reich der Mitte abspielte, wird wahrscheinlich niemals genau festzustellen sein. Indessen publizierte die Moskauer ideologische Zeitschrift „Kommunist“ einen Bericht über die Entwicklung in China, der freimütig zugesteht, daß es im vergangenen Jahr zu einem Aufstand kam, den zu liquidieren der Partei offenbar erst im Frühjahr dieses Jahres gelang. Merkwürdigerweise blieb dieser Bericht im Westen unbeachtet, obwohl er hinreichend“ zu erklären vermag, warum sich auch Chruschtschow gezwungen sah, seine auf dem XX. Parteitag proklamierte Linie so gründlich zu revidieren.

Der Aufstand ging „von den Vertretern des reaktionären Teils der Bourgeoisie und einem Teil der ehemaligen Gomindanovskij-Bewegung aus“, welche Innenminister Lo auf 5 5 Millionen Menschen berechnete, nämlich 30 Millionen Ausbeuter in den Kreisen der Besitzenden und-25 Millionen Angehörige der Intelligenzschicht.

„Bei der Rechten“, so fährt der „Kommunist“ fort, „bestand nicht die geringste Aussicht, auf legalem Weg, das heißt durch Wahlen, zur Macht zu gelangen. Sie beschritt daher den Weg der aktiven Konterrevolution und startete Angriffe auf die Diktatur des Proletariats. Sie wurden besonders durch Tschiang Kai-schek und die USA unterstützt... Der Anteil der Studenten war besonders groß, nicht verwunderlich, da nur 34 Prozent unter ihnen Arbeiter und Bauern sind.“

Das ist deutlich genug. Aber der „Kommunist“ geht in seinen Enthüllungen noch weiter, denn er schreibt, die KPCh habe „100.000 Menschen gegen die konterrevolutionären Ideen der Rechten einsetzen müssen ... Der Kampf ist nicht beendet...“ Bis zum Juli 1957 hätten sich indessen „mehr als 190.000 bei den Sicherheitsorganen des Staates freiwillig gemeldet“, eine Zahl, die, mit Angaben des Innenministers Lo zu vergleichen, lohnend ist. Er erklärte nämlich, mit der Vernichtung der Konterrevolutionäre seien 750.000 speziell ausgebildete Funktionäre beauftragt worden, die 1,7 Millionen „finstere, politische Elemente entlarvt“ hätten. 300.000 „Rechtsabweichler“ seien später ertappt worden, unter ihnen 60 Abgeordnete des Volkskongresses.

Wie bedrohlich die Situation für die Partei gewesen sein muß, verrät auch die Mitteilung des „Kommunist“, daß von den 25 Prozent der Volksvertreter, die nicht der KP angehörten, „einige Schlüsselstellungen in den Ministerien hatten — also doch offenbar Ministerämter bekleideten —, andere in den Provinz- und Staatssowjets saßen... Nur einige erkannten die führende Rolle der Partei an“. Sofort nach der Niederschlagung des Aufstandes setzte die Parteireinigung ein, begannen die Liquidationen und öffentlichen Reuebekenntnisse, die bis zum März anhielten. Im Februar beschloß die fünfte Sektion des allchinesischen Sowjets, die Mandate aller Abgeordneten aufzuheben, die sich der „Abweichung“ angeschlossen hatten. „Die Führer und Anhänger der Abweichungen 'wurden ihrer Aemter enthoben und verstoßen.“ Im März erfolgte denn auch prompt die Unterwerfung der nichtkommunistischen Parteien. Ausdrücklich wird notiert, daß die Rechten, die sich 1956 zu einem Block zusammenfanden, „später eingestanden, die demokratischen Parteien der KP entfremden zu wollen. Die Tatsachen sprechen dafür, daß dieser gegen das Volk gerichtete Block einen konkreten Aktionsplan ausgearbeitet hatte. Das Signal zur Aktivierung der Aktion gaben die Ereignsise in Ungarn.“

Als dann nach der 100-Blumen-Periode die Partei zur Selbstkritik aufrief, „nutzten die Rechten diesen Moment aus, um die konstruktive Kritik zu einem Angriff umzubiegen, das Chaos auszunutzen und sich in der Rolle des Retters an die Macht zu bringen“. Es waren bereits vier Komitees mit Spezialaufgaben gebildet worden. Sie sollten „die KP liquidieren, die demokratische Liga stärken, antikommunistische Programme' ausarbeiten lind:'die Ueber-nahme der führenden Roller “im ' Staat, vorbereiten“. Besonders „verwerflich war das außenpolitische Programm: Sie wollten

China aus dem Freundschaftsbündnis mit der Sowjetunion lösen, um ihr Volk zur Kapitulation vor dem amerikanischen Kapitalismus zu führen“. Sie ..begnügten sich nicht damit, Postulate aufzustellen. Sie unternahmen Schritte, um ihre Bewegung ins Volk zu tragen“, während die Studentenschaft „nach dem Vorbild von Ungarn und Polen gemeinsam mit den Arbeitern und Bauern den Aufstand auslösen sollte“. Ejne Anzahl Leute, die „sich Kommunisten nannten, in Wirklichkeit aber im Lager der bürgerlichen Intelligenz standen, ließ dabei schamlos die Partei im Stich“.

Das ist — man muß es gestehen — eine offenherzige Sprache, die durchaus Schlüsse auf den Grad der Erschütterung erlaubt, der die Herrschaft der Kommunisten in China ausgesetzt war. „Augenblicklich hat die Partei“, so stellt der „Kommunist“ weiter fest, „das entscheidende Stadium der Zerschlagung der Abweichler bereits überschritten.“ Auf wen aber kann sich die Diktatur der kommunistischen Minderheit überhaupt stützen, außer auf ihren Sicherheitsdienst und das Netz ihrer Funktionäre? Von den 500 Millionen ländlicher Bevölkerung sind 120 Millionen Bauern in die Zwangskollektiven getrieben worden. 30 Prozent der Bauern gehören den Mittelbauern, 10 Prozent den Kulaken an. Sie werden ebensowenig Anhänger Maos sein wie die fünf Millionen depossedierter Handwerker. Und von den 24 Millionen Arbeitern und Angestellten, die das Land laut „Kommunist“ 1956 zählte, sind bei 624 Millionen Einwohnern nur elf in der Industrie beschäftigt, von denen 65 Prozent erst nach 1949 in die Städte abwanderten und „viele nichtproletarischer Herkunft und Träger kleinbürgerlicher Ideen sind“.

Die Furcht vor dem „Revisionismus“ und einer möglichen Wiederholung des Aufstandes von 1957 zwingen Peking mithin, mit allen Mitteln den Kampf gegen jede Art von „Revisionismus“ aufzunehmen. Sie zwingen auch Chruschtschow, auf jenen Kurs einzuschwenken, den er gestern noch verdammte und für den die Letzten der alten Garde in die Wüste geschickt wurden. Die Krise, die innerhalb des Sowjetblockes nicht mehr zur Ruhe zu kommen scheint, bestätigte auch die jüngste Reinigung im ZK und in den Kadern der SED. Angesichts dieser Situation ist es kein Wunder, daß Chruschtschow darum bemüht ist, seine Autorität auszubauen Und zvrfesti'gen.' Doch 'Wird er nicht verhindert “können, daß der „Revisionismus“ die fatale Eigenschaft hat, unterirdisch weiterzu-schwelen.

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