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Die Prager Seifenblasen

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Am 8. Juni gibt es in der Tschecho-Slowakei die er- sten freien Wahlen seit 44 Jahren. Die jüngsten demo- kratischen Gehversuche fielen verständlicherweise recht tapsig aus.

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Am 8. Juni gibt es in der Tschecho-Slowakei die er- sten freien Wahlen seit 44 Jahren. Die jüngsten demo- kratischen Gehversuche fielen verständlicherweise recht tapsig aus.

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Es ist, als befände sich ein ganzes Volk in der politischen Schule. Prag geht über an Parolen von 23 Partei- en, die sich am 8. Juni bei den Par- lamentswahlen (gewählt werden das Föderative Parlament, die Gemeindekammer sowie das tsche- chische und slowakische Republiks- parlament) den Bürgern stellen.

Am Graben hat das Bürgerforum (Obcanske forum) mit Fotos und Graphiken, Fahnen, Symbolen und Zeitungsausschnitten die Zeit von der Befreiung 1945 bis zur kommu- nistischen Machtübernahme 1948 optisch sehr eindrucksvoll do- kumentiert. Beherrschend ist eine gigantische Fotomontage der stur- sten Stalinisten der Warschauer- Pakt-Staaten bis in die Gegenwart; die „Gauner-Gruppe" - wie die Prager sagen - dominiert natürlich Josef Wissarionowitsch Dschuga- schwili Stalin, dessen monströse Marmorbüste soeben aus Prag ab- transportiert wurde. Auf einer Bühne davor erzeugen zwei ver- träumte Mädchen Seifenblasen, Menschen bleiben stehen, lächeln, Kinder greifen danach und lassen sie platzen.

„We shall overcome" singt ein Kinderchor auf tschechisch am un- teren Ende des Wenzelsplatzes; da- nach skandieren die Volksschüler Politparolen. An der vor zwei Wo- chen aufgestellten Statue Tomas G. Masaryks schreien sich Taf erlklass- ler am Lob des ersten Präsidenten der Tschechoslowakei heiser.

Am oberen Ende des Wenzels- platzes, vor der Wenzelsstatue will sich ein halbes Dutzend um die junge Demokratie Besorgter zu Tode hungern, wenn nicht - wie dies eine Unterschriftenaktion seit mehreren Wochen fordert - die Kommunistische Partei ein für al- lemal (wie faschistische Gruppie- rungen) verboten werden sollte. Unter das Volk mischen sich kom- munistische Provokateure. Und da kommt es schon manchmal zu Handgreiflichkeiten. Von dieser „Frechheit" der Kommunisten wird heute überall in Prag gesprochen.

Kardinal FrantisekTomasek, von der FURCHE über seine Ein- schätzung der Kommunisten be- fragt, meinte, daß ihr Einfluß heute gering sei. Wie sie bei den Wahlen abschneiden werden, könne er nicht beurteilen, sagte der Prager Erzbi- schof, um dann hinzuzufügen: „Möglicherweise bekommen sie 15 Prozent." Vaclav Maly, Organisa- tor und Inspirator der „sanften Re- volution" in der Tschecho-Slowa- kei, Freund von Staatspräsident Vaclav Havel, heute Pfarrer in der Prager Gemeinde St.Gabriel, spricht in diesem Zusammenhang von etwa zehn Prozent für die Kom- munisten. Der engagierte Geistli- che ist jedoch der Meinung, daß die Kommunisten momentan keine Machtgelüste haben: „Ihnen fehlen Vordenker und moderne Ökono- men."

Die jüngsten Umfragen zu den Wahlen haben ergeben, daß in Böhmen und Mähren 26 Prozent das Bürgerforum Vaclav Havels wählen würden, das zur Zeit in Prag überall präsent ist und dessen Hauptquartier am unteren Wen- zelsplatz ständig von Hunderten Leuten belagert wird. 13 Prozent werden den Kommunisten beschei- nigt, die in den Industriegebieten Nordböhmens und -mährens sehr stark sind und mit viel Geld, Ver- sprechungen, aber auch Angstma- cherei vor drohender Arbeitslosig- keit operieren. Je fünf Prozent sol- len schließlich auf die Sozialdemo- kraten beziehungsweise die So- zialisten entfallen. In der Tsche- chei wissen 49 Prozent noch nicht, welche Partei sie wählen sollen.

Klarer sieht die Parteienpräfe- renz im kleineren Landesteil Slo- wakei aus. Dort führen laut Mei- nungsbefragung die Christ- demokraten mit 38 Prozent (die slowakische CDU hat mit der tsche- chischen Schwesterpartei und der alten Volkspartei eine „Union" gebildet), danach kommen die Grünen mit 13, die national gesinn- te Demokratische Partei mit acht, die Bewegung „Öffentlichkeit ge- gen Gewalt" (Pendent zum tsche- chischen Bürgerforum) mit sechs und die Kommunisten mit 5,5 Pro- zent,

Die Menschen in der Tschechow Slowakei schwanken zwischen Hoffnung und Angst. Die Regie- rung und auch Staatspräsident Havel tun alles, um Optimismus zu züchten. Der Realist Maly zur FURCHE: „Sie suggerieren dem Volk, daß wir in kurzer Zeit den freien Markt haben werden, daß der Privatinitiative Tür und Tor geöffnet werden." Das braucht aber Malys Ansicht nach mindestens ein Jahrzehnt. „Wie sollen unsere Leute, die ein sehr schlechtes Ver- hältnis zum Gemeineigentum hat- ten - Stehlen war Gewohnheits- sache - nun über Nacht ein positi- ves Verhältnis zum Privateigentum bekommen? Bei uns wird außerdem verschwiegen, daß Krisen auf das Land zukommen werden. Wer be- reitet die Bürger psychologisch auf schwere Zeiten vor? Wer soll ihnen Halt geben, wer sie vertrösten auf langfristige Verbesserungen, wenn sie jetzt schon so ungeduldig sind?"

Für den Bürgerrechtler ist Havel zwar ein exzellenter Präsident, der aber der Innenpolitik zu wenig Aufmerksamkeit widme. „Es be- steht eine deutliche Diskrepanz zwischen Innen- und Außenpoli- tik. Wir machen drei Schritte au- ßen und dann einen kleinen Schritt innen vorwärts."

Es besteht die Gefahr, daß viele Illusionen wie Seifenblasen rasch zerplatzen. Kommunistische Ge- sprächspartner lehnen sich genüß- lich zurück und ätzen über den „Studenten am Hradschin". Maly glaubt, daß man eine neue Gesell- schaft nur dadurch aufbauen kann, daß man nicht verspielt, sondern nüchtern den Aufgaben und Her- ausforderungen - „sie werden eine ganze Generation in Anspruch nehmen" - ins Auge blickt. Freier Markt, Privatwirtschaft, starke Währung, keine Arbeitslosigkeit, innere Sicherheit und äußere An- erkennung lassen sich nicht durch optische Erfolge erreichen. Das ist es, was Maly, der vorige Woche in Wien war, seinen Landsleuten unmittelbar vor den „Schicksals- wahlen" sagen möchte.

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