6951815-1984_15_07.jpg
Digital In Arbeit

CSSR: Innere Emigration

19451960198020002020

Ein Augenschein in der CSSR bestätigt: Es dominiert nach wie vor die „Flucht ins Private". Innenpolitischer Verkrustung und ideologischer Verhärtung steht eine für osteuropäische Verhältnisse akzeptable Versorgung gegenüber.

19451960198020002020

Ein Augenschein in der CSSR bestätigt: Es dominiert nach wie vor die „Flucht ins Private". Innenpolitischer Verkrustung und ideologischer Verhärtung steht eine für osteuropäische Verhältnisse akzeptable Versorgung gegenüber.

Werbung
Werbung
Werbung

In einem alten Schlachthaus aus der Jahrhundertwende im Prager Stadtteil Holesovice ist ein Privatmarkt untergebracht: Frisches Gemüse ist hier in einem reichlichen Angebot vorhanden. Eine große Schlange von Kunden wartet vor dem Stand eines Privatgärtners, der Obstbaumsetzlinge verkauft. Sie gehen reißend weg — für die „chata", das Wochenendhaus, das die Mehrzahl der Prager Bürger ihr eigen nennt.

Für „chata" und den kleinen Garten wendet man viel Geld und Liebe auf, um sich eine Idylle in einem meist bedrückenden Alltag zu schaffen. Hier läßt sich's am Samstag und Sonntag vortrefflich träumen, erholt man sich in der „inneren Emigration" von den Widerwärtigkeiten in Büro und Betrieb, vom bedrückenden politischen Leben, dem man sich nirgendwo entziehen kann.

Auch in den - zu jeder Tagesund Nachtzeit überfüllten — berühmten Prager Bierkneipen drehen sich die Gespräche vorwiegend um unpolitische Probleme.

Oder bestenfalls um quasi-politi-sche Angelegenheiten:

Um die rund 30.000 vietnamesischen Gastarbeiter in der CSSR etwa, denen man offene Ablehnung entgegenbringt (in der Kneipe wird ihnen kein Bier serviert!) und die angeblich für die epidemische Verbreitung der Syphilis, über die „Mlady svet" jüngst berichtet hat, verantwortlich gemacht werden.

Es geht in den Kneipengesprächen auch um die Umweltzerstörungen in der CSSR, von denen jeder betroffen ist — ohne allerdings den Schluß zu ziehen, die zentrali-stische Planwirtschaft verfahre noch viel zerstörerischer, bedenkenloser und „ausbeuterischer" als der westliche Kapitalismus mit der Natur.

Während man in der DDR oder auch in Ungarn bei einem Besuch kaum der „Friedensdiskussion" und den Raketen entkommt, scheint dies offensichtlich die Tschechen weitaus weniger zu berühren. Nur die eigene Betroffenheit löst, wenn auch nur eine unpolitische, Reaktion aus: In Karlsbad und Umgebung etwa, wo die neuen sowjetischen Kurzstreckenraketen als Gegenmaßnahme gegen die NATO-Nachrü-stung installiert worden sind und wo daher große Waldgebiete, die früher für die Schwammerlsucher zugänglich waren, nun gesperrt sind.

Man raunzt und schimpft auch über die zunehmende „Militarisierung" der Gesellschaft. Die Gesprächspartner in Prag berichten zum Beispiel von neuen Anstrengungen der Behörden, die gesamte Bevölkerung für den Zivilschutz zu schulen, von den Jüngsten bis zu den Ältesten.

„Im Sinne des Gesetzes besteht für sie eine Pflicht, sich an Zivilschutzübungen zu beteiligen", lautete der Text eines Briefes an eine Dame, die bereits vor längerer Zeit im Alter von 86 Jahren gestorben war. Die Hinterbliebenen schickten die Einladung an den Absender zurück. Vergeblich. Sie kam wieder. Diesmal waren die Verwandten empört und meldeten den Fall der Preßburger „Pravda".

Auch Künstler werden in diese Militarisierung eingespannt. Einige von ihnen berichten, in diesem Jahr seien „Maßnahmen zur Erhöhung des Niveaus der Militärpropaganda und effektiver Popularisierung der Armee in der Gesellschaft" (so der amtliche Titel) beschlossen worden. Kulturinstitutionen und Künstlervereine wurden mobilisiert.

Das alles geschieht zwar, wird aber — im Gegensatz zu früheren Jahren — nicht mehr völlig widerspruchslos hingenommen.

An der Prager Karls-Universität hat es schwejkhafte Widerstandsaktionen gegeben. Sonnen, Symbol für Frieden, wurden an die Mauern gemalt. Studentinnen der medizinischen Fakultät hielten sich bei einem Pflichtvortrag eines Offiziers demonstrativ die Ohren zu und verantworteten sich so: „Wir Frauen sind doch bekanntlich tratschsüchtig — und wir wollen keine militärischen Geheimnisse ausplaudern."

Es gibt Nachweise, daß ein „oppositionelles Milieu" (noch keine aktive, widerstandswillige Opposition) im Wachsen ist, wie das vor einigen Jahren absolut undenkbar schien.

Zusammenkünfte in Wohnungen (mit 30 oder 40 Leuten), wo man frei und ungezwungen diskutiert, haben zugenommen.

Diese Aktivitäten haben so zugenommen, daß der zwar personell gut ausgestattete Sicherheitsapparat nicht mehr nachkommt oder aber einfach resigniert hat, wie einer der Teilnehmer an diesen Veranstaltungen spekuliert.

Wie ist es sonst zu erklären, daß Vaclav Havel, einer der Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77" und vor einigen Monaten aus der Haft entlassen, nach einem Theaterbesuch wie selbstverständlich von den Schauspielern zu einer Diskussion eingeladen wird? Und wo in dieser Wohnung, in der die Diskussion über die Bühne geht, Havel an die vierzig Leute antrifft, Menschen, die er noch nie gesehen hat und die ganz sicher nicht zum engen Kreis der rund 300 Charta-Signatare gehören?

Von diesem wachsenden oppositionellen Milieu auf bevorstehende soziale oder gesellschaftliche Unruhe in der CSSR zu schließen, wäre sicherlich verfehlt.

Das Regime, unbeweglich, starr, ideologisch verkrustet, ist auf Repression und Kontrolle eingeschworen — wie eh und je. Die

Arbeiterschaft ist ruhig. Der unausgesprochene „Sozialvertrag" zwischen Regime und Massen — wir sorgen für materielles Wohlergehen, ihr gebt politische Ruhe — scheint wieder besser zu funktionieren.

Denn: Die Versorgung — keiner weiß wieso und warum — ist besser geworden als im vergangenen Jahr. Die Fleischerläden müssen für die meisten osteuropäischen Touristen eine Ahnung von Paradies vermitteln.

Auch rein medizinisch läßt sich belegen, daß die Versorgung gut ist. 55 Prozent der Frauen, 45 der Männer und 15 Prozent der Kinder in der CSSR sind laut letzten statistischen Erhebungen übergewichtig. Ein Viertel des Haushaltsbudgets wird für Essen und Trinken ausgegeben; Restaurants, Gaststuben und Kneipen sind voll.

Daß selbst bei einigermaßen funktionierender Versorgung die systemimmanenten Schwächen nicht ausgemerzt werden können, belegt ein Artikel aus „Mlady svet": 40 Prozent der Erdäpfel, die an Kunden verkauft werden, sind bereits mehlig oder treiben aus; oft sind 50 Prozent des teuer gekauften Fleisches nur Fett, Knochen und Flechsen; die Hälfte der Milchtüten ist undicht, die Butter selten frisch, sondern mehrheitlich ranzig.

So wissen die Tschechen, daß — trotz Rückzug in die innere Emigration und halbwegs funktionierender Versorgung — das System „intakt" ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung