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Manches ist anders als in der DDR

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Laut amtlicher Statistik entscheiden sich 33,8 Prozent der DDR-Bürger, die in einen sozialistischen Bruderstaat reisen, für die CSSR. Umgekehrt sind es sogar 40 Prozent. Allerdings kommen innerhalb der gesamten COME- CON auf vier reiselustige Ostdeutsche gerade ein Tschechoslowake, was auf die günstigeren Verdienstmöglichkeiten der DDR-Bürger zurückzuführen sein dürfte. Wer dagegen aus der CSSR einmal ins westliche Ausland reisen möchte, wird großzügiger behandelt als die DDR-Bürger von ihren Behörden. Grundsätzlich dürfte das jeder Tschechoslowake alle drei Jahre einmal. Billigste Gruppenreisen dieser Art kosten zu stark überhöhtem legalem Sonderkurs drei Monatslöhne eines Industriearbeiters.

Größere Wohlhabenheit trägt nicht gerade zur Popularität der Ostdeutschen bei. Die Prager geraten selten mehr in Wut, als wenn ihnen ihr Staatsund Parteichef Gustav Husdk wieder den Fleiß, die Tüchtigkeit und den Erfolg der DDR-Nachbarn als Vorbild hinstellt. Das Streben nach Übererfüllung des Plansolls bedeutet CSSR-Bürgern kein Ideal. Auch freiwillige • Arbeitsverpflichtungen schränken die freizeitbewußten Tschechoslowaken auf das Minimum ein.

Bis 1939 war es in der Moldaumetrö- pole nicht ratsam, öffentlich Deutsch zu sprechen. Auf solchen Chauvinismus stößt man 1977 überhaupt nicht mehr. Selbst Leute, die gerade ein paar deutsche Worte radebrechen können, versuchen zu helfen, wenn man eine Straße nicht findet oder den komplizierten Fahrscheinautomaten der Straßenbahn falsch bedient. Jedoch gibt es die „kleinen Unterschiede“: Gegenüber Deutschen aus der „kapitalistischen“ Bundesrepublik, vor allem aber Österreichern, ist man in Prag, aller Propaganda zum Trotz, liebenswürdig und über jeden Kontakt erfreut. Das gilt für sämtliche Touristen aus dem Westen. Anders verfah-

ren die Bürger der CSSR hingegen mit den ostdeutschen Genossen. Den sozialistischen Brüdern aus dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ nimmt man neben ihrem größeren Wohlstand noch anderes übel: daß Walter Ulbricht einer der Haupthetzer in Moskau war und den Sturz Alexander DubZeks zumindest beschleunigt hat, wird ihm auch nach seinem politischen und physischen Tod nicht verziehen. Erst recht hat die Teilnahme der „Nationalen Volksarmee“ an der Invasion vom 21. August 1968 einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Nach 1939 besetzten zum zweitenmal deutsche Eroberer das Land.

Viel friedlicher verläuft die „Invasion“ der DDR-Touristen. Vieles erinnert sie an die Zustände in ihrem eigenen Land. Sie müssen genausolang vor den Fahrstühlen der Hotels warten, Gruppen und erst recht Delegationen werden gegenüber Einzelreisenden bevorzugt, und wer sich in einem guten Restaurant einen Tisch reservieren läßt, muß geduldig ausharren oder wird weggeschickt. Da enden aber die Gemeinsamkeiten. Selbst das schlechteste Essen mancher Prager Hotelküchen ist immer noch schmackhafter als eine Mahlzeit in der DDR.

Endlose Käuferschlangen gehören in Prag und Ostberlin zum Alltag. Eine Zeitlang war Fleisch für die Bewohner der Moldaumetropole Mangelware, und Fleischspeisen wurden nur noch in Ausländerhotels und Luxusrestaurants serviert. Dann aber stellte das Regime trotz der Devisenknappheit und ständig steigender Staatsverschuldung den Export dieses heißbegehrten Lebensmittels ein. Die Versorgung im eigenen Land w,ar wieder gesichert. Bekanntlich sind die Tschechen und Slowaken europäische Rekordverbraucher von Schweinefleisch aller Art. Engpässe stellen sich —und dieses traurige Lied kennen ja die DDR-Bürger auch daheim - bei Südfrüchten ein.

Zwar gibt es auch in Prag moderne Supermärkte, in die man nur schubweise eingelassen wird. Jedoch überwiegen immer noch die kleinen Geschäfte. Bis zur winzigsten Schuster-

Werkstatt und zu den vielfrequentierten Würstelständen wurde alles verstaatlicht. Während die Tpchechoslo- waken den privaten Sektor der Wirtschaft gänzlich abgeschafft haben, entfallen in der DDR immerhin noch neun Prozent des Gesamtumsatzes auf diesen. Das selbständige Kleingewerbe wird in der DDR neuerdings sogar ermutigt.

Sind die zahlenden Gäste aus der DDR von den leiblichen Genüssen, die Prag bietet, hingerissen, so imponieren ihnen Industriegüter „made in ÖSSR“ viel weniger. Tatsächlich hat die längst nicht mehr so stur gelenkte Industrie der DDR die einst auf dem Weltmarkt hochangesehene tschechoslowakische Konkurrenz überflügelt.

Eine Kardinalfrage bleibt die Haltung des Normalbürgers zur kommunistischen Supermacht. Freilich empfindet auch die DDR-Bevölkerung keine Freundschaft gegenüber der Sowjetunion. Das bleibt weiterhin ein unbewältigtes Problem. Aber der 17, Juni 1953 liegt weit zurück, und das Verhältnis hat sich einigermaßen „versachlicht“. Tiefer sitzt der Stachel in der Tschechoslowakei. Dort genoß man ja schließlich auch monatelang die „Früchte des Prager Frühlings“. Als ihn sowjetische Panzer am tragischen 21. August 1968 niederwalzten, legte man in schweigendem Protest Blumensträuße am Denkmal des heiligen Wenzel nieder, wie 1939, nach der Invasion der Deutschen.

Seltsam und nachdenklich stimmt eines: Als Gustav Husäk nach sechsjährigem Kerker und schweren Folterungen befreit wurde, blieb er Kommunist. Genauso steht es mit seinen Gegnern von heute, den Regimekriti- kem. Ein Dubcek, ein Kohut, ein Vaclav Havel und viele andere glauben auch heute noch an einen „humanen Kommunismus“. Von der Möglichkeit, die Heimat zu verlassen, machten wenige Gebrauch. Ob dieses Beharrungsvermögen angesichts der totalitären Staats- und Parteimacht „schwejkisch“ oder patriotisch ist, darüber sind die Ansichten selbst in der Moldaumetropole geteilt.

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