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Ein Bett und tausend Mark

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Während sich westliche Industriestaaten zunehmend Gedanken über demographische und psychische Probleme des Gastarbeiterstromes machen, intensivieren die Mitgliedsländer des COMECON eine Praxis, die „Arbeitskräftekooperation“ genannt wird, faktisch aber die gleichen Probleme wie im Westen mit sich bringt. Unterbezahlte und unterbeschäftigte Osteuropäer verlassen ihre Heimat. Ziele sind die Sowjetunion, die DDR und die CSSR.

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Während sich westliche Industriestaaten zunehmend Gedanken über demographische und psychische Probleme des Gastarbeiterstromes machen, intensivieren die Mitgliedsländer des COMECON eine Praxis, die „Arbeitskräftekooperation“ genannt wird, faktisch aber die gleichen Probleme wie im Westen mit sich bringt. Unterbezahlte und unterbeschäftigte Osteuropäer verlassen ihre Heimat. Ziele sind die Sowjetunion, die DDR und die CSSR.

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Im „Cafe Corso“ Unter den Linden herrschte der übliche Nachmittagsbetrieb. Mädchen in bodenlangen Rök-ken schlürften gelangweilt Whisky-Soda, gutgekleidete Beamte der umliegenden Ministerien unterhielten sich über die letzten Sendungen des Westfernsehens; im nicht abreißenden Autostrom vor den Türen des Cafes zwischen den üblichen hochpolierten Staats-Wolgas auch mehrere Mercedes, Opel und Volkswagen. Es war der Moment, in dem Iwan Dintscheff, Bestarbeiter des Agro-Komplexes Schumen (Nordbulgarien) beschloß, seiner Heimat zumindest für einige Jahre den Rücken zu kehren und hier, im fortgeschrittensten COMECON-Staat, eine Beschäftigung zu suchen.

Die Mühlen der Bürokratie mahlten fast ein Jahr lang, aber dann hatte es Dintscheff erreicht. Ausgestattet mit einem gültigen Reisepaß und einer Unzahl anderer, mehrfach gestempelter Dokumente, reiste er über Prag nach Dresden, als „Spezialist“ im Rahmen des „Arbeitskräfteaustausches“ — der in vielen Fällen jedoch nur eine Einbahnstraße ist.

In der DDR arbeiten schätzungsweise 60.000 bis 70.000 Gastarbeiter. Überwiegend: sind es Polen. An zweiter Stelle rangieren Ungarn, dann Bulgaren und Jugoslawen. Teils sind es Bauarbeiter und Techniker, die im Rahmen des „Exports von Bau- und Montageleistungen“ mit ihrem polnischen, oder jugoslawischen Betrieb Großprojekte in der DDR durchführen, teils junge Facharbeiter aus Ungarn und Bulgarien, die ihre Qualifikation in der DDR erhöhen wollen.

Die hohe Anzahl von polnischen Beschäftigten in der DDR-Industrie hat in letzter Zeit zu Diskussionen und Unstimmigkeiten zwischen dem Gierek-Regime und Ost-Berlin geführt. Bekanntlich hat Polen der Aussiedlung von rund 120.000

deutschstämmigen Bürgern in die Bundesrepublik zugestimmt. Sinkende Geburtenzahlen und Landflucht werden daher auch in Polen mittelfristig zu steigender Nachfrage nach Arbeitskräften führen. (Die DDR hat aussiedlungswilligen Deutsch-Polen ebenfalls günstigste Niederlassungsbedingungen angeboten, was in Warschau und Bonn zu Verwunderung und Erbitterung geführt hat.)

Der Abschied von der DDR wird den polnischen Gastarbeitern nicht leicht fallen. Sie verdienen hier mehr als ihre einheimischen Kollegen, nämlich rund eintausend Mark pro Monat plus 1500 bis 2000 Zloty Auslandszulage, die in Polen auf ein Sperrkonto der PRO wandern. Die Hälfte ihres Mark-Verdienstes können sie zum Kurs von 1 :10 nach Hause überweisen. Für den Rest dürfen langlebige Konsumgüter gekauft und zollfrei in die Heimat mitgenommen werden.

Im Gegensatz zu manchen westlichen Ländern ist in der DDR eine Diskriminierung am Arbeitsplatz völlig unbekannt, zumindest offiziell. Da ausländische Arbeiter sogar Priorität in der Quartierzuweisung genießen, kommt es angesichts der Wohnungsnot gelegentlich schon zu Reibereien. Urdeutsche Ressentiments gegen „Wasserpolacken“ oder „schmutzige Südländer“ müssen dann notfalls mit Behördengewalt unterdrückt werden. Gelegentlich kommt es auch zu Schlägereien und Messerduellen. Meist sind dabei Alkohol und Frauen im Spiel, manchmal aber auch ideologische Auseinandersetzungen.

Ähnlich wenig begeistert sind auch Tschechen und Slowaken vom Strom jugoslawischer und polnischer Gastarbeiter. Mit ihren eigenen Firmen befinden sich derzeit rund 5000 Polen und 3000 Jugoslawen in der CSSR. Weitaus größer ist die Anzahl un-

organisierter polnischer Arbeiter, die in den Grenzgebieten Nordböhmens, Nordmährens und der Ostslowakei arbeiten. Der größere Teil dieser Arbeitskräfte kommt im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs in die CSSR — darunter zahlreiche Frauen.

Dritter „Großimporteur“ von Arbeitskraft im Rahmen des COMECON ist die Sowjetunion. Bis 1975 waren es in erster Linie Bulgaren, die hier beschäftigt wurden. Unter anderem sind sie beim Bau eines Eisen-und Stahlwerkes sowie eines Zellulose-Kombinates bei Ust-Ilim an der Angara eingesetzt. In den Forstwirtschaftsbetrieben von Komi (ASSR) befinden sich 12.000 Bulgaren, in Archangelsk deren 2500, in Shdanov über 5000 und in Kursk weitere 5000. Der bulgarische Beitrag wird durch Lieferungen aus diesen Betrieben bezahlt, die Arbeiter selbst erhalten den gleichen Lohn wie ihre sowjetischen Genossen. Wiederholt haben chinesische und albanische Massenmedien auf die mehr oder weniger versteckte Ausbeutung der Bulgaren in der UdSSR hingewiesen, denn nach Auffassung Pekings „schickt die Verräterclique in Moskau die osteuropäischen Gastarbeiter überall dorthin, wohin die Russen selbst nicht gehen wollen, also in abgelegene, unwirtliche Gebiete“.

Die Situation — gelegentlich, wenn auch vorsichtig, von Rumänien kritisiert — wird sich in diesem Jahr noch verschärfen. An der Errichtung der Erdgasfernleitungs-Magistrale Orenburg sollen 25.000 bis 30.000 ausländische Arbeitskräfte, Techniker, Ingenieure und Verwaltungsbeamte aus Bulgarien, der CSSR, der DDR, Polen und Ungarn teilnehmen. Vier Jahre Bauzeit sind für das Riesen-

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