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Flucht in ausgeleierte Phrasen

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In dieser Woche geht, im Warschauer Kulturpalast der Parteitag der polnischen Kommunisten über die Bühne. Die Aufbruchsstimmung nach dem 6. Parteitag im Dezember 1970, als Parteichef Gomulka durch Gierek abgelöst wurde, ist verflogen. Auch der noch immer spürbare Optimismus des 7. Parteitags vom Dezember 1975 ist dahin. Das Land an der Weichsel steckt heute in einer tiefen Krise, der Zukunftshorizont ist umwölkt.

Die Polen sind Weltmeister im „Durchwursteln" und haben, nicht nur im altösterreichischen Krakau, das kakanische „Sich's richten" zu seltener Perfektion entwickelt. Nun reißt ihnen aber schön langsam der Geduldsfaden.

Die „Bettlerschlangen" vor den Fleisch- und Lebensmittelgeschäften verletzten die Menschenrechte, donnerte Kardinal Wyszynski - und sprach damit dem Volk aus der Seele. Die Versorgungskrise, entstanden aus Mißernten, fehlenden Transportkapazitäten und unausrottbaren Systemmängeln der Planwirtschaft, geht den Polen am meisten auf den Nerv.

Nicht minder drückt sie allerdings das ökonomische Versagen etwa beim Wohnungsbau - es fehlen etwa 1,2 Millionen Wohnungen -, die aus Energiespargründen verfügten regelmäßigen Stromabschaltungen und Betriebsstillegungen und die schleichende Inflation.

Der Unmut über die fraglos schlimmen Zustände reicht bis in die Parteispitze, wo im ZK-Plenum Worte wie diese fielen: „In unseren Parteiversammlungen diskutieren wir jedes Jahr unsere Ziele und Erfolge. In den Köpfen der. Menschen aber existieren eine Reihe von Problemen - da ist der Mangel auf den Märkten, Furcht vor Preiserhöhungen. Die Menschen sind wütend und empört über en Manggenden Medikamenten.Die Menschen stehen in langen Schlangen.yor Äen Geschäften oder warten auf den' bereits überfüllten Bus."-

Selbst in der regierunggnahen Zeitung „Zycie Warszawy" hieß es in den „Diskussionen" zum jetzt bevorstehenden Parteitag kritisch: „Wir haben Schwierigkeiten... zu bewältigen. Wir sind von lästigen Stromabschaltungen betroffen, der Güterund Personentransport funktioniert nicht gut. Es gab Zeiten, wo es an Rasierklingen, Schuhcreme, Streichhölzern, Toilettepapier, Milchwaren usw. fehlte. Ein Anstieg der Lebenshaltungskosten ist zu spüren. Der tägliche Einkauf ist lästig geworden und hat Erregung und Verbitterung hervorgerufen."

All das ist der konkrete, sichtbare Ausfluß einer allgemein schlechten Wirtschaftslage, die sich aus zwei verschiedenen Phasen ergeben hat:

Die Parteiführung Giereks leistete zu Beginn der siebziger Jahre einen ungeheuren Wirtschaftsboom, mit gezielter Öffnung nach dem Westen, ein. Während von 1961 bis 1970 das Nationalprodukt Polens im Jahresdurchschnitt um 6,1 Prozent anstieg, wuchs es von 1971 bis 1975 mit einer Jahresrate von 9,8 Prozent. Die Investitionsrate stieg bis 1975 auf 35 Prozent des Volkseinkommens - nur noch mit „ölfieber" in Norwegen vergleichbar.

1975 hatte Polen den höchsten Investitionsanteil in ganz Europa. Ziel des ganzen Manövers: mit der technischen Erneuerung der Industrie sollten Exporte in den Westen angekurbelt werden, um mit dem Erlös der stets unruhigen Arbeiterschaft einen dauerhaften Konsumanstieg und der Bevölkerung einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen. Das Schlagwort vom „Konsumsozialismus" wurde geprägt, ein „ungarischer Weg" schien sich anzubahnen.

Die zweite Phase der Wirtschaftspolitik, folgerichtig aus der ersten erklärbar, kann mit „austerity" umschrieben werden: Importbeschränkungen bei gleichzeitiger Exportstützung, Bremsung der bisher ungezügelten Investitionen, Rückgang der Reallöhne. Dies war notwendig geworden aus zwei Gründen:

Erstens hatte die Landwirtschaft Polens mit dem dynamischen Wachstum der Industrie-Erzeugung nicht Schritt gehalten. Von 1971 bis 1979 mußten etwa 50 Millionen Tonnen Getreide eingeführt werden.

Zweitens: Das polnische Wirtschaftswunder der Jahre 1971 bis 1975 war auf Pump gemacht worden, die Gesamtauslandsverschuldung wird heute auf etwa 15 Milliarden Dollar geschätzt. Die in den Jahren der Hochkonjunktur aufgenommenen Kredite müssen 1980/81 in großem Umfang zurückgezahlt werden. 1979 betrüg bereits der Schuldendienst mehr als die Hälfte der Devi-senerlöse Polens, rund vier Milliarden Dollar; ein Viertel davon entfällt auf Zinsen.

Polen hat ausgegeben, was es noch nicht verdient hat - aber der wirtschaftliche Erfolg, der letztlich auch in einen politischen umgemünzt werden sollte, ist ausgeblieben. Die Vertrauenskrise zwischen Regime und Bevölkerung ist nur noch größer geworden.

In einer Unzahl von Erscheinungen kommt diese Krise zum Ausdruck: im rasch anwachsenden Dissidententum, das mit wachsender Repression von seiten des Staates bekämpft wird; in partei-interner Kritik an Parteichef Gierek, zu dem es allerdings keine personelle Alternative zu geben scheint; in Korruption, Schleichhandel, wachsender Wirtschaftskriminalität, sinkender Arbeitsproduktivität, in Defätismus und „moralischer Zersetzung".

Die Partei steht diesem politischen und wirtschaftlichen Scherbenhaufen eher ratlos gegenüber. Die Erfolgstabellen in den Parteitagsrichtlinien lösen bei den Polen nur Hohn aus. Natürlich stimmt es, daß heute in Polen 300.000 Autos jährlich produziert werden und daß diese Zahl fünfmal so hoch ist wie 1970 - aber gebraucht würden mindestens 500.000 Pkw's. Ähnlich verhält es sich bei Farbfernsehern, Waschmaschinen, Fleisch usw. • Die Zukunftsperspektiven der Partei, in den Parteitagsrichtlinien aufgezeigt, sind dürftig und bescheiden. Reformdiskussionen gibt es - etwa Dezentralisierung der Wirtschaft -, aber kein erkennbares Konzept. Wieder einmal flüchtet die Partei in Phrasen, die ausgeleiert sind und schon in der Vergangenheit wirkungslos verpufft sind.

Auf Dissidententum, das ja nur die Spitze eines Eisberges von tatsächlichem und berechtigtem Volksunmut ist, wird reagiert wie gehabt. In den Parteitagsrichtlinien wird gefordert, den „antisozialistischen Elementen entschiedener entgegenzutreten", weil sie versuchten, „die Einheit unserer Nation in Kernfragen und den Platz Polens in der Welt zu untergraben". Es ist das alte Spiel mit dem Appell an den polnischen Nationalismus.

Zum bedeutsamsten Ereignis in Volkspolen, dem historischen Papstbesuch im Juni vergangenen Jahres, fällt den Wortschöpfern der Pärteitagsrichtlinien folgendes ein: „Die Reise von Papst Johannes Paul II. in sein Heimatland, besonders aber die Begegnung mit dem Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretär und seine Ansprache in Auschwitz waren eine Bestätigung der Zweckmäßigkeit und Möglichkeiten der Vertiefung des konstruktiven Charakters der Beziehungen zwischen Polen und dem Vatikan im

Namen der allen Völkern teuren Sache des Friedens."

Auch hier zeigt sich symbolhaft, wie realitätsfern, zurechtgebogen und gefährlich illusionistisch das Regime in Polen mit dem Volk, seinen Wünschen und Problemen, Einschätzungen und Sehnsüchten umgeht. Der Parteitag wird das nur bestätigen.

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