Die moralischen Kosten der Korruption

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Der Weg Tschechiens von der "samtenen Revolution“ über den Beitritt zu OECD, NATO und EU zu einer liberalen Demokratie. Die Erfahrung des schwierigen Paradigmenwechsels in Theorie und Praxis zeigt erst jetzt die tiefe Bedeutung des Programms der "Dekade der geistigen Erneuerung“, die Kardinal Frantiˇsek Tomáˇsek (Bild unten) 1987 ausrief.

Das Jahr 1990 sah den Start einer Debatte über die Transformation der tschechischen Gesellschaft und Wirtschaft nach dem Kollaps des Kommunismus. Wien wurde mit einem Mal die erste ausländische Destination der Tschechen und die österreichischen Alpen avancierten zu einem beliebten Erholungsort. Gemeinsame Geschichte unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, geografische Nähe und vergleichbare Größe an Fläche und Einwohnern trugen dazu bei, dass Österreich ein Musterbeispiel eines lebenswerten Landes wurde.

Genau aus diesem Grund nahmen Politiker und Ökonomen für unseren wirtschaftlichen Weg der Zukunft Österreich als Referenzpunkt. Das tschechische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug damals 53 Prozent des österreichischen. Die Experten lagen weit auseinander bei ihren Schätzungen, wie lange es dauern würde, bis man mit Österreich gleichgezogen haben würde - im Schnitt ging man von 20 Jahren aus. Nun, nach Ablauf dieser 20 Jahre, ist der Graben größer, als selbst die pessimistischsten Erwartungen vermutet haben: Das Bruttoinlandsprodukt war 2010 bei 63 Prozent des österreichischen. Bedeutet das, dass die Transformation eines totalitären, undemokratischen Systems mit Planwirtschaft in ein pluralistisches politisches System mit Marktwirtschaft in der Tschechischen Republik fehlgeschlagen ist? Definitiv nicht!

Instabile Koalitionen

Die Tschechische Republik war das erste postkommunistische Land, das der OECD beigetreten ist (1995) - und sie war in der ersten Gruppe früherer Warschauer-Pakt-Staaten, die der NATO (1999) und der EU (2004) beigetreten ist. Tschechien und die Slowakei erwarben sich auch großen Respekt auf der internationalen Bühne durch ihre friedliche "samtene Scheidung“, welche die Tschechoslowakei in zwei Länder aufsplittete - drei Jahre nach der "samtenen Revolution“. Von Beginn an war die Tschechische Republik ein Land mit berechenbarerer politischer Entwicklung und guten Beziehungen zu seinen Nachbarn. Mit einer Ausnahme haben demokratische Wahlen regulär alle vier Jahre stattgefunden und ein relativ stabiles parlamentarisches System gezeigt. Seine einzige Schwäche liegt darin, dass es relativ instabile Koalitionsregierungen hervorbringt, die für gewöhnlich nur von einer dünnen parlamentarischen Mehrheit getragen werden. Eine Folge davon ist, dass es in 18 Jahren neun Personen auf dem Sitz des Ministerpräsidenten gegeben hat. Diese häufigen Wechsel haben viele wesentliche Reformen verhindert, lang überfällige Maßnahmen - wie Pensionsreform, Gesundheitsreform, Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts, oder die Restitution kirchlichen Eigentums und ein Agreement mit dem Vatikan - wurden auf die lange Bank geschoben.

Das Problem der Korruption erfährt viel Aufmerksamkeit in den tschechischen Medien. Dieses drückende Problem ist eines der wenigen gemeinsamen Themen aller postkommunistischen Länder (vielleicht mit Ausnahme von Estland und Slowenien). Das Phänomen der Korruption hat tiefe Wurzeln in ganz Zentral- und Osteuropa während des Stalinismus geschlagen, der von Unterdrückung und einer Verachtung für menschliche Werte gekennzeichnet war. Die Vorstellung, dass alles möglich ist und irgendwie gemanagt werden kann (einschließlich des Wetters), beraubte menschliches Handeln jedweden Gefühls für Demut und bereitete Nepotismus, Protektionismus und Betrug den Boden, solcherart alle überkommenen Regeln ignorierend. Es ist sehr schwierig, solche verlockenden aber in die Irre führenden Ideen und Handlungsweisen aus dem menschlichen Verhalten wieder hinauszubekommen - diese Korrektur braucht lange Zeit. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch der Druck der EU zur Etablierung demokratischer Standards nicht ausreicht, um die Spuren von 50 Jahren ohne Freiheit in der Tschechischen Republik auszulöschen. Das ist der Grund, warum Korruption ein viel größeres Problem in jenen Ländern ist, die Jahrzehnte der Repression hinter sich haben, als in solchen, denen lange Perioden des kommunistischen Totalitarismus erspart geblieben sind. Diese Erfahrung des schwierigen Paradigmenwechsels in Theorie und Praxis zeigt erst jetzt die tiefe Bedeutung des Programms der "Dekade der geistigen Erneuerung“, die der Kardinal und Prager Erzbischof Frantiˇsek Tomáˇsek 1987 ausrief.

Irrgärten der Umverteilung

Korruption trifft besonders hart den öffentlichen Sektor, der ihre finanziellen Kosten zu tragen hat. Mit den moralischen Kosten muss sich die gesamte Gesellschaft befassen. Die materiellen Vorteile der Korruption kommen jenen zugute, die den Weg durch die ausgeklügelten Irrgärten der Umverteilungsmaschinerien kennen. Korruption wird auch genährt durch das Hereinströmen europäischer Gelder. Ein ganzer Sektor von Consultern, Lobbyisten und Verwaltern dieser Gelder ist da entstanden. Bis jetzt gibt es keine ernsthafte Studie über den Einfluss europäischer Mittel auf die Wirtschaft und die gesellschaftliche Entwicklung. Aber es ist klar, dass es uns nicht gelungen ist, die sichtbaren sozialen Vorteile mit den unsichtbaren Kosten in Zusammenhang zu bringen. Ein Ergebnis davon ist, dass die oft positive Darstellung von EU-kofinanzierten Projekten nicht gestützt wird von der Realität.

Die tschechische Gesellschaft hat große Probleme in jenen Bereichen, die nicht einer Transformation nach dem Kollaps des Kommunismus unterzogen wurden und wo nun die EU-Regulierung quasi den Resten der perversen sozialistischen Planwirtschaft die Hand schüttelt. Solch bürokratisches, kundenunfreundliches und ineffizientes Management zeigt sich vornehmlich in der öffentlichen Verwaltung. Die Macht, über EU-Mittel zu verfügen, steigerte den Einfluss des Staates sowie regionaler und oft auch lokaler Bürokratie. Nicht einmal die gut getesteten Regeln für die Verteilung haben die Gelder daran gehindert, ihren Weg in befreundete Hände zu finden. Europäisches Geld macht Projekte möglich, die ansonsten nie stattgefunden hätten. Das Erfordernis der Kofinanzierung zieht Mittel zu neuen Projekten, während bestehender Infrastruktur die nötigen Mittel zur Aufrechterhaltung fehlen.

Annäherung an West-Standards

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die tschechische Gesellschaft westeuropäischen Ländern angenähert. Ein anschauliches Beispiel ist die veränderte Orientierung der tschechischen Exporte. Während vor der Wende drei Viertel der Exporte an unentwickelte Märkte der früheren Ostblock-Länder ging, gehen 20 Jahre später rund 80 Prozent in den entwickelten EU-Markt, die Hälfte davon allein nach Deutschland. Die Veränderungen in der Export-Struktur hatten einen fundamentalen Effekt auf Veränderungen in der kleinen offenen Wirtschaft selbst und hinsichtlich der Verbesserungen des tschechischen Lebensstandards in qualitativer wie quantitativer Hinsicht.

Die Vertiefung der EU-Integration wird wahrscheinlich eine desintegrative Reaktion evozieren. Die Europäische Währungsunion, der griechische Staatsbankrott und die unhaltbare Entwicklung der öffentlichen Finanzen in Portugal, Spanien und Italien rufen allesamt nach einer immer größeren Vertiefung der wirtschaftlichen Integration. Die Ausgabe von Eurobonds (um einigen verschuldeten Wirtschaften den Zugang zu den Finanzmärkten wieder zu ermöglichen) würde eine detaillierte Koordinierung der Fiskalpolitiken erfordern. Das aber wird nicht möglich sein ohne eine politische Union, vertreten durch eine vollwertige europäische Exekutive. Ein weiterer Transfer von Kompetenzen nach Brüssel wird erfolgen, um anderer Staaten Schulden zu zahlen. Mehr Umverteilung innerhalb der EU und schwächere Nationalstaaten werden unvermeidlich sein. Die Bürger von fiskalisch disziplinierten Staaten werden zahlen für die unverhältnismäßigen Exzesse der politischen Repräsentanten der undisziplinierten Staaten. Weder die Politiker noch die Bürger vieler bisher souveräner EU-Mitglieder sind dafür bereit. Die Beschleunigung der EU-Integration kann politische Spannungen in einigen Mitgliedsländern produzieren, die ihre Beziehung zur EU infrage stellen.

Die Serie "Die zweite Wende“ erscheint in Kooperation mit der Erste Group.

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