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Hinaus mit Marx, herein mit Marks

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Das große Experiment ist , angelaufen: Die Fusion einer Markt- mit einer Planwirtschaft. In Berlin zeigen sich bereits die ersten positiven Zeichen der erhofften Veränderungen.

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Das große Experiment ist , angelaufen: Die Fusion einer Markt- mit einer Planwirtschaft. In Berlin zeigen sich bereits die ersten positiven Zeichen der erhofften Veränderungen.

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Schon am späten Nachmittag des 30. Juni stellten sich die ersten Bürger am Berliner Alexanderplatz an, um so rasch wie möglich ihre . Alu-Chips,wiedieMark in der DDR spöttisch genannt wird, in harte DMark zu wechseln.

Im Laufe der Nacht wuchs die Umtauschaktion zu einem Fest aus: Menschen tranken miteinander, schütteten die letzten Mark aus ihrer Brieftasche auf den Boden, zerrissen ein paar Markscheine. Sie wollten sich in keine neuerliche Schlange stellen, um das Restgeld auf ihr Konto zu legen, wo-es zu ei-

nem niedrigen Kurs umgetauscht werden könnte.

Menschen in der DDR sprechen heute deutlich vom Bankrott ihres Landes und haben für die Behauptung der Kommunisten; im Augenblick zeigen die Länder des real existierenden Sozialismus ihre • selbstreinigende Kraft, nur ein zynisches Lächeln übrig. Für sie ist das Thema des Stalinismus ebenso uninteressant wie der Leninismus und der Marxismus. Für viele ist Stalin kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern eine logische Konsequenz. Es kann daher nicht verwundern, daß zur Zeit die Bürger der DDR mit allem radikal Schluß machen wollen, was an den ungeliebten Staat erinnert. Das ist nicht · 1 nur schmerzlich für jene Betriebe, die für den täglichen Bedarf produ-, zier(t)en, sondern auch für jene, die die ästhetischen Bedürfnisse zu stillen hatten: Verlage und Schallplattenfirmen.

In den letzten Tag????n vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik Deutschland verramschten die Detailhändler ihre auf Lager liegenden Waren. Bücher, die nichts mit ·Sozialismus zu tun hatten, wurden zwischen 50 Pfennig und fünf Mark gehandelt. In manchen Geschäften wurden Bücher nach Kilogramm verkauft. Ein Verleger brachte die Sorgen auf den Punkt: „Wer weiß, ob uns das Sortiment je wieder als Partner akzeptiert." Der Henschelverlag in Berlin verkaufte seine Bücher zu Normalpreisen durch ein Fenster seines Hauses. Im Straßen-

verkauf setzte er täglich mehrere hundert Mark um. Zahlreiche Käufer sind aus dem Westen, wo sie Bücher aus der DDR kaum im Sortiment finden konnten.

In den Buchhandlungen stocherten hauptsächlich Westtouristen in den Bücherbergen, die Auslagen wurden mit Westwaren bestückt. Innerhalb weniger Stunden wandelte sich das Angebot grundlegend. Nicht mehr die Klassiker der sozialistischen Literatur standen im Schaufenster, sondern alles das, was die Szene im Westen bewegt. Nicht wenige Titel spekulierten mit dem ungestillten Hunger der DDR-:Bür-

ger nach Soft-Pornographie. Mit der Umstellung der Währung beginnen auch Handwerker wieder, um den Kunden zu werben. Montag früh boten sich Handwerker an, jene1 Arbeiten durchzuführen, für die sie bis jetzt kein Interesse gezeigt hatten. Das sind erste Signale eines großen Aufschwungs. Angesichts des gewaltigen Sanierungsbedarfs in den einzelnen Städten der DDR sowie der Notwendigkeit, eine Infrastruktur zu schaffen, die Gütertransporte, leistungsfähige lnforma tionsträger wie Telefon, Fax et cetera ermöglicht, wird ein Wirtschaftswachstum von über zehn Prozent pro Jahr erwartet. Um überflüssige Geldmittel langfristig binden zu können, wird auch schon das Bausparen angeboten. Die Bedingungen sollen besser sein als zur Zeit in der Bundesrepublik.

In den Optimismus der (noch) DDR-Bürger mischt sich nur wenig Pessimismus. Warum sollte es mit Hilfe des großen Bruders nicht möglich sein, rasch alle anstehenden Probleme zu lösen? Von den Untiefen einer Mietenexplosion macht sich kaum jemand wirklich eine Vorstellung. Wie sollte er auch?

Einern Beobachter mögen Zweifel erlaubt sein: Da nahezu die gesamte alte Bausubstanz desolat ist - einer der Gründe war die Wahnsinnsidee, bis 1990 allen Bürgern der DDR einen neuen Wohnraum zu bieten, um die Vergangenheit ' „ abstreifen zu können - und von q r Fassade;ti.berdie Steigleitiliigeno1s zum Dach alles erneuert werden muß, kann man sich nicht vorstellen, wiejenevier MilliardenD-Mark aufgebracht werden können, die angeblich nötig sind, um wirklich zu helfen.

Neben diesem Problem warten noch die Umweltsünden auf ihre Reparatur, die Summe dafür ist um ein mehrfaches höher als jene für die Wohnhaussanierung und die Betriebe, die meistens nichts produzieren können, was der Konkurrenz aus dem Westen ernsthaft standhalten könnte.

Seit dem 1 . Juli 1990 läuft in Deuschland ein einzigartiges Experiment: Die Fusion einer Marktwirtschaft mit einer Planwirtschaft. Alternative gibt es keine. Zu dem kommt die Angst der Bürger in der DDR, daß eine Veränderung in der UdSSR ihr Experiment gefährden könnte. Die Einführung der D-Mark hat nach ihrem Selbstverständnis die Chancen der UdSSR gemindert, den in Gang gekommenen Prozeß noch einmal stoppen zu können. Daher sind sie bereit, im Bedarfsfall den Gürtel enger zu schnallen.

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