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Lebensmelodie aus West
Japan blieb es vorbehalten, als erstes Land der freien Welt Flüchtlinge aus der CSSR wieder abzuschieben. Die unglaubliche Nachricht ist leider wahr: Sechs junge Mädchen, die sich als Hostessen für die Weltausstellung in Osaka zur Verfügung gestellt hatten, um so ihrem Land für immer den Rücken kehren zu können, sind auf Grund einer Vereinbarung Japans mit den kommunistischen Staaten auf einem sowjetischen Schiff wieder heimwärts befördert worden. Kein Flüchtling aus der CSSR, der sich in Europa oder Amerika, in Asien oder Australien befindet, wird seinen Fuß mehr auf japanischen Boden setzen können. Wäre die Nachricht nicht sogar von den offenherzigen Zeitungen der CSSR bestätigt worden, würde sie kein Mensch für wahr halten. Japan braucht neue Märkte für seinen Export — verstimmte kommunistische Handelspartner sind aber schlechte Abnehmer. Auch europäische Regierungen werden sich vielleicht schon morgen dem Druck der Lobbyisten ausgesetzt sehen. So grotesk der Gedanke ist, so vollziehbarer ist er auch: der östliche Vorwurf des Kapitalismus als beherrschende Lebensmelodie, vom Westen vehement in Abrede gestellt, hülfe den kommunistischen Führern nicht nur zu vollen Kassen, sondern auch zu vollen Gefängnissen. Japan war ein Anfang — werden andere folgen? In Nürnberg sitzen die Hauptverantwortlichen der Flugzeugentführung vom 8. Mai in Untersuchungshaft. Die Zeitungen der CSSR bewerfen sie mit ganzen Kübeln voll Schmutz: gemeine Kriminelle und Vorbestrafte sollen sie fast ohne Ausnahme sein, ihre Auslieferung wurde beantragt. Nach den Ereignissen in Osaka zittert man. Alexander Dubcek hat den Männern im Hradschin nicht den Gefallen getan, im Westen um Asyl zu bitten, auch seine Frau kam inzwischen zurück. Er wußte, was ihn zu Hause erwartet, und kehrte doch „heim“. Ein Dubcek im Asyl wiegt schwerer als zehn geflüchtete Botschafter. Die türkische Regierung und mit ihr die ganze NATO können aufatmen, der Kelch ist vorübergegangen. Oder hat man auch ihn, der schon seinen Fuß draußen hatte, abblitzen lassen? Eines Tages wird Dubcek den Mund öffnen können — möge dann niemand in Ankara, Washington oder Paris vor Scham erröten müssen! Wenn die Staatsräson vor der Menschlichkeit rangiert, ist der erste Schritt zur Diktatur zurückgelegt.
Sage niemand, Völker ließen sich das nicht gefallen. Nicht nur die überwiegende Menge der Südafrikaner billigt die Apartheidpolitik, nicht nur die wenigsten Bürger der Sowjetunion begreifen die Klagen der jüdischen Mitbürger. Zahllose Gespräche mit Kommunisten in westlichen Ländern hatten das gleiche deprimierende Ergebnis: Wer aus der DDR, der CSSR, aus Polen, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien sogar unter Lebensgefahr flieht, hat sicher „etwas Kriminelles“ getan. Der nächste Schritt ist dann, die Flucht selbst zu einem kriminellen Akt zu stempeln. Es gilt, hier mit aller Leidenschaft den Anfängen zu wehren, solange es nicht zu spät ist. Hitlers größter Erfolg waren nicht die Autobahnen und seine ersten Kriege, sondern die Diskriminierung der Juden — die Rede vom „anständigen Juden“, die man allenthalben als Ausnahme, die nur die Regel bestätigt, hörte, bewies es.
CEDOK, das stattliche Reisebüro der CSSR, hatte für diesen Sommer ein großzügiges Reiseprogramm auch nach Jugoslawien vorbereitet. Dutzende von Vorhaben konnten nicht durchgeführt werden, weil die Teilnehmer keine Pässe bekamen. Trotzdem werden es einige Tausend sein, die Seite an Seite mit westlichen Touristen die Küste der Adria bevölkern. An drei jugoslawischen Grenzpunkten wurde die gleiche Frage gestellt: Was tut ihr, wenn ein Bürger der CSSR das Laad nach Italien oder Österreich verlassen will? Die Antwort lautet eindeutig: Wenn er ein Visum dieser Länder hat, lassen wir ihn passieren. Der Ball ist also wieder beim Westen. Werden die italienischen und österreichischen Konsuln menschlicher sein als kürzlich die japanische Regierung?
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