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Kafkas anderer „Prozeß

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Aus der CSSR kommen Nachrichten, wonach Prorektor Prof. Doktor Eduard Goldstücker aus Prag, derzeit Germanist an der Sussex-Universität in England, als Reformpolitiker der Prager Kommunisten herausgegriffen werden wird und daß ihm ein Prozeß gemacht werden soll. Dieser Schauprozeß hängt auch mit einem zweiten falschen Protokoll der Weisen aus Zion“ zusammen, weil Goldstücker dieses wiederum von Moskau gelenkte Falsifikat erkannt und davor gewarnt hat. Wer ist Goldstücker? Dr. Eduard Goldstücker stammt aus einer kleiner Judengemeinde an der polnisch-slowakischen Grenze. Goldstücker oder richtiger Goldsticker wurden die Familien genannt, die Thoravorhänge mit Goldfäden stickten. Goldstücker hat sich vom Judentum distanziert und ganz der tschechischen intellektuellen Jugend bereits vor dem zweiten Weltkrieg angeschlossen, als er in Prag studierte. Er wurde Mitglied der kom-

munistischen Jugendbewegung, emigrierte nach England, wo er in die tschechoslowakische Armee einrückte. Der in Philosophie und Germanistik bewanderte junge Mann zog auch infolge seiner Sprach- und Sprechgewandtheit die Aufmerksamkeit der führenden Kommunisten auf sich. Nach Errichtung des Staates Israel wurde er dort tschechoslowakischer Gesandter. Damals glaubten die leitenden Kommunisten im Osten in Israel einen willfährigen Satelliten im Nahen Osten heranzüchten zu können, und die CSSR wurde der erste und größte Waffenlieferant für den jüdischen Staat gegen die Araber! Israelis im Waffenalter kamen nach Prag, um mit Wissen der damaligen Regierung auf dortigen Militärflugplätzen instruiert zu werden. Ohne diese Waffen und Instruktionshilfe hätten die Israelis nur schwer Widerstand leisten können. Doch Israel, wo Menschen in Kibbuz-Kommunen kommunistischer leben als in diversen Volksrepubliken, enttäuschte: Es bezahlte die

Waffenrechnungen und wollte seine Außenpolitik selbst ohne Leitung aus Prag und Moskau machen! Nun drehte man den Spieß um: Tel-Aviv wurde zum Vorposten des omerifcani-schen Imperialismus ernannt, und die Waffen werden nun an die Araber geliefert: Rache muß sein! Doktor Eduard Goldstücker wurde nach Prag unter dem Vorwand berufen, daß er einen anderen Gesandtenposten erhalte. In Prag wurde er verhaftet und eingesperrt, viele andere Juden im Zusammenhang mit der Slänsky-Affäre desgleichen, nur Gymnasialprofessor Dr. Kosta-Kohn wurde wegen depressiven Nervenzusammenbruches in eine Anstalt gesteckt. Dr. Goldstücker hat seine Gefängniszeit in letzter Zeit selbst beschrieben. Im Jahre 1962 — Frühling — suchte ich Herrn Prof. Goldstücker nach vorhergehender Übereinkunft in seinem Institut auf der Philosophischen Fakultät auf. Ich hatte gelesen, daß E. T. A. Hoffmann im Jahre 1819 erkrankt und nach seiner Genesung

nach Prag gekommen sei. Da mir einige Gestalten in seiner Erzählung mit Prager Atmosphäre beladen erschienen, suchte ich vergebens nach weiteren Angaben und hoffte, daß mir der Germanist Goldstücker hier behilflich sein könne. Bereitwillig nahm er aus seiner Bücherei alle Bücher heraus, die ich bereits vergeblich durchsucht hatte, so daß in dieser Hinsicht mein Besuch erfolglos ausfiel. Beim Weggehen zwischen Tür und Angel fragte ich, ob es nicht an der Zeit sei, sich auch in Prag mit Franz Kafka, bis dahin tabu, zu beschäftigen und. ein Symposium einzuberufen. Doktor Goldstücker gab mir die Hand und sagte mit festem Händedruck: „Kommt nicht in Frage!“ Im Dezember 1962 berührten diese Frage J e an - P aul Sartre in Moskau-Leningrad auf dem Weltfriedenskongreß und Aragon in Prag. Nun waren die Weichen gestellt. Prof. Dr. Goldstücker wurde nun der Verfechter der Idee, daß sich auch Marxisten mit Franz Kafka beschäftigen müssen. Er sprach und veröffentlichte viel, reiste als „Reisender in Kafka“ ins Ausland, wobei er zu Hause einen großen Widerstand zu bekämpfen hatte, von selten des Literaturpapstes Paul Reimann, genannt Polly, Ehrendoktor einer DDR-Universität, und aller anderen offiziellen Stellen in der DDR, die Kafka als Dekadenten

bekämpften. Prof. Dr. Goldstücker schützte sich dadurch, daß er die Paul-Eisner-Theorie des durchbrochenen Judenghettos in Prag übernahm und auch alle Stellen totschwieg, die Kafkas Studium des Hebräischen und zionistische Sympathien zeigten. Als Max Brod zu einer Kafka-Feier eingeladen wurde, wurde er als J an ä 6 ek - Entdecker von musikalischen Kreisen eingeladen und betreut, wenn auch die Feier selbst im Literarischen Zentrum am Strahov stattfand. Franz Kafka wurde im Mai 1963 in Liblice, Schloß und Forschungsstätte der Akademie der Wissenschaften, von marxistischer Sicht beleuchtet, Prof. Dr. Goldstücker erklomm die höchsten Universitätsämter, und als beim „Prager Frühling“ nach dem Sechstagekrieg die Intellektuellen in der CSSR sahen, daß sich eine kleine Nation gegen Übermacht wehren könne, wehrten sich die Schriftsteller bei ihrer Sommerversammlung gegen die Direktiven des Parteikulturträgers Hendrych. Die Revolution im Saale hatte zur Folge, daß sich Autoren gegen die Partei stellten und Hendrych versuchte, einen Kompromiß zu erzielen. Seinem Drängen zufolge wurde der gemäßigte Reformator Prof. Doktor Goldstücker zu Vorsitzenden des Verbandes der Schriftsteller gewählt.

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