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Die Schulen Altösterreichs

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Katholische Schulen sind berühmt gut, und die der Piaristen die allerbesten: der kleine Hans Kohn wird in ihre private Elementarschule in der Prager Herrengasse geschickt, wo sich Rilkes Geburtshaus befindet, und P. Anton Hesky ist ihm ein strenger, stimulierender Lehrmeister, dem er seine spätere Stellung als „Primus“ durch die acht Jahre des Altstädter Gymnasiums verdankt, denn P. Hesky hat den Jungen lernen gelehrt, den wichtigsten Gegenstand ... Wie jeder naturalisierte Amerikaner, der mit dem Mittelschul- oder Collegeleben der Neuen Welt späterhin zu tun gehabt hat, singt Kohn das Loblied der europäischen, ganz besonders der altösterreichischen Sekundärschule. Wie gering waren die finanziellen Bürden, die die Unterrichtsverwaltung den Eltern auflastete, wie reich wurde die Jugend, die die gebotenen Wiissensschätze von Staats wegen übernehmen durfte, durch diese intellektuellen Aufspeicherungen!

Kohn bricht in dem schönen Schul-kapitel eine Lanze für die altösterreichische Unterrichtsmethode und den Lehrplan — sehr im Gegensatz zu Stefan Zweig, der in der „Welt von gestern“ dem Wasa-Gymnasium wenig Gutes nachrühmt. Oder zu Thomas Mann und seinem Hanno Buddenbrook im prussiflzierten Lübecker Gymnasium. Oder zu — Adolf Hitler, dem Nichtmaturanten des Lambacher Stiftes. (An den Rand geseufzt: wenn Hitler nur maturiert hätte ...!)

Der spätere Historiker und Geschichtsphilosoph stellt sich in seiner Verteidigung der mitteleuropäischen Bildungsideale in genauen Gegensatz zu dem amerikanischen Utili-tarier und Pragmatiker John Dewey und dessen Schülern, denen es in wenigen Jahrzehnten jenseits des Atlantik gelungen ist, die einstmals ausgezeichnete, nach europäischen Maßstäben ausgerichtete höhere Pädagogik der Vereinigten Staaten vollkommen zu ruinieren, bis eben der russische Sputnik und der amerikanische Admiral Hyman Rickover — vielleicht ist das typisch: ein nuklear denkender Marineoffizier, Jude und Bildungsfanatiker — Alarm schlugen und das Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit wieder Unterrichtsdingen zuwandten. Im übrigen hat Kohn einen Verbündeten in dem verstorbenen großen Physiker Erwin Schrödinger, dem Protagonisten humanistischer Bildung für Naturwissenschaftler.

Noch auf dem Gymnasium wurde Kohn Zionist und blieb der

1 Hans Kohn: Living in a World of Revolutions. New York 1964, frident Press. 211 Seiten. Preis 4.95 US-Dollar. Deutsche Ausgabe unter dem Titel: Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Revolution. Mit einem Geleitwort von Arnold J. Toynbee. Verlag Huber, Frauenfeld, 1965. 176 Seiten. Preis 134.65 S.

Vgl. meinen Aufsatz „Das abgeschlossene Kapitel“ über Hans Kohns Studie „Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Otto Weininger“ (Tübingen 1962: Mohr) in „Die Furche“, 34. März 1962, Seite 13.

Herzischen Bewegung auch durch die Zeit seines Hochschulstudiums an der juristischen Fakultät der Prager Carolina verhaftet. Jünglingsfreundschaften brachten diese wichtige Wendung herbei, vielleicht auch, obwohl Kohn dies nicht ausdrücklich betont, die nationalistischen Tendenzen der Deutschen und Tschechen in Prag — ganz sicherlich die mythen-durchwobene Atmosphäre der herrlichen Stadt, in der Rabbi Low, Tycho de Brahe, die Alchimisten, Rudolf II. gewirkt hatten und der Golem von Low erschaffen worden war.

Als Zionist stand und steht Kohn, den entscheidende Freundschaften mit Martin Buber, Karl Wolfskehl, Gustav Landauer und Robert Weltsch schon in jungen Jahren zusammenführten, nicht ganz auf dem rigorosen Standpunkt des heutigen Israel. Ihn beherrscht die Furcht, daß der neue Staat der Juden den alten Nationalismus der europäischen Völker übernommen und für sich verarbeitet hat. Obwohl nicht tief religiös, will Kohn die Juden als ein „heiliges“ Volk verstehen, als Künder des Heils und nobler Ideale, die von Zion der Menschheit leuchten sollen. Er und seine frühzionistischen Freunde wollten friedliche Zusammenarbeit mit den Arabern als gleichberechtigten Miteigentümern des „Eretz“ und Mitgenießern der vielen Errungenschaften des jüdischen Geistes und des jüdischen Könnens.

Vermerkt soll auch werden, daß der Historiker Kohn das Curriculum des österreichischen Rechtsstudiums, das er an der Prager Carolina durchlaufen mußte und das im wesentlichen auch heute noch an den drei Universitäten der Republik Österreich aufrecht erhalten wird, besonders rühmt: wenn es ernst genommen wird, bietet es dem Studierenden nicht nur eine Anleitung in seinem engeren Fachwissen, sondern wichtige Einblicke in Philosophie und Psychologie, ganz abgesehen von einer gründlichen Ausbildung in europäischer Geschichte und lateinbezogener Philologie. Vielleicht ist das österreichische Jusstudium im Verhältnis zur Totalität der Hochschulstudien die eigentliche Fortsetzung des humanistischen Gymnasiums mit seinen vielen Vorzügen und gewissen Mängeln!

Wiener Volkshochschule in Sibirien

Der erste Weltkrieg schleudert unseren Autobiographen — so paradox es klingen mag — in seine wahre und eigentliche Lebensbahn. Der junge Prager Jurist erhält seine Ausbildung als Offiziersanwärter in Salzburg und wird an die russische Front geschickt. Während eines Nachtangriffes in den Karpathen wird Kohn am 21. März 1915 gefangengenommen und bleibt in Rußland bis Jänner 1920. Dies bedeutet, daß der künftige Historiker, der Philosoph und Deuter des Nationalismus und des Slavismus, das Ende der Ära Franz Josephs, der Donaumonarchie und des zweiten Kaiserreiches nicht aus nächster Nähe erlebt hat, während er anderseits wdederum unmittelbarer Zeuge der großen Ereignisse in Rußland wurde.

Es ist charakteristisch für den Geist der Frontkämpfer der ersten Phase des Krieges, daß Kohn, obgleich er von den Russen gut behandelt worden war und diese ihn nach Samarkand, in eine der interessantesten Städte ihres weiten Reiches schickten, dennoch zur kämpfenden Truppe seines Vaterlandes strebte und aus dem recht komfortablen Gefangenenlager floh. Vielleicht hatte der junge Prager — tausende Kilometer von der Heimat entfernt — die Atmosphäre des habsburgischen „Völkerkerkers“ richtig schätzen gelernt. Kohn berichtet, wie tief ihn das Auftreten der russischen „Herren“ gegenüber den bucharischen „Kolonialen“ beeindruckte. Er, der die Deutschen und die Tschechen in Zank und Streit in Böhmen hatte beobachten können, sah nun die ganze Überheblichkeit der Slawen als Herren.

Der flüchtige Offizier des noch regierenden Kaiser Franz Josephs — es war im Februar 1916 — wurde wiederum gefangen und in ein befestigtes Lager im Pamir-Plateau geschickt. Die Märzrevolution 1917 brachte den Gefangenen viele Erleichterungen, und der künftige Professor organisierte mit Freunden — Bücherpakete aus der Heimat, durch das Rote Kreuz übermittelt, halfen aus — Vorträge und Kurse über alle erdenklichen Gegenstände auf allen möglichen Wissensgebieten und hatte viel Erfolg. Es war eine richtige Wiener Volkshochschule in Sibirien.

Im weiteren Verlaufe wird Kohn Zeuge der bolschewistischen Erhebung, des Bürgerkrieges und vieler Grausamkeiten der „Weißen“ gegen die „Roten“, um frühere „rote“ Atrozitäten zu rächen. Der Friede von Brest-Litowsk sollte dem Verfasser die ersehnte Befreiung und Rückkehr in die Heimat bringen, aber der Ausbruch des Bürgerkrieges verhindert die Rückkehr, und nun findet er sich plötzlich als Gefangener der tschechischen Legion, der Kohn kein Ruhmeslied singt. Immerhin mußte er sich der Situation anpassen, wird auch nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie etwas besser behandelt, wird Mitarbeiter eines sibirisch-zionistischen Wochenblattes und im Frühjahr 1919 tschechoslowakischer Staatsbürger, was ihm sogar eine Position als Hilfsbibliothekar im Irkutsker Hauptquartier der Legion einbringt.

Eine Geldsendung aus der Heimat ermöglichte dem freien Kriegsgefangenen die Rückkehr nach Europa durch eine abenteuerliche und faszinierend geschilderte Reise. In Rußland selbst brachen die Gegner des Bolschewismus zusammen. Kohn reiste nach Japan und dann über China und Indien zurück in die Heimat, nach Prag.

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