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Dauer im Wandel

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Der Titel, den man mit sorglichem Bedacht für ein Gedenkbuch zum Eintritt des bedeutenden schweizerischen Diplomaten, Historikers und Schriftstellers ins Psalmistenalter gewählt hat, eignet sich nicht minder dazu, der Gesamtgestalt Gonzague de Reynolds überschrieben zu werden. Die beiden großen Humanisten sind einander nicht nur durch Herkunft, Erziehung, Lebensführung nahe — um sie knüpfen sich Familienbande; Burckhardt ist Gatte einer der Töchter de Reynolds —, sondern auch kraft des Ranges, den sie, wahre Uomini universali, im geistigen und im politischen Raum der Schweiz und Europas einnehmen. Der Erbherr auf Cres-sier über Murten-Morat und der Nachfahre eines der glanzumstrahltesten Basler Patriziergeschlechter sind, jeder in seiner Art, Vertreter der beiden geist-seelischen Landschaften, die in der Schweiz zur harmonischen Einheit verschmolzen sind: der alemannisch-deutschen und der burgundisch-französischen. Sie sind es zugleich jenes Helvetiens, das, seine mannigfaltigen Ursprünge nicht verleugnend, dennoch mehr und anders ist, als die nun zusammengewachsenen Bestandteile eines neuen (ob auch tausendjährigen) Ganzen; so, wie ein Verein nicht etwa die bloße Summe seiner Mitglieder darstellt.

Oberflächliche Besucher der Schweiz, auch sonst Gebildete, denen der Name Burckhardt eine verblassende Erinnerung aus früherer Tagesweltpolitik und denen Gonzague de Reynold Schall und Rauch sind, werden erstaunt und hierauf unwillig darüber sein, daß man dieses Urbild der Demokratie, die Republik der fünfundzwanzig Kantone, durch eine zwiefache Verkörperung authentischsten Aristokra-tentums repräsentiert wissen will. Derlei Haltung beruht indessen auf einem völligen Mißkennen eines Landes, das zwar die Fremden gastlichst und mustergültig aufnimmt, ihnen sich aber in seiner Wesenheit erst nach langem, liebevollem Werben erschließt. Dann wird man gewahr, daß hier, inmitten der ewig dünkenden, hoch gegen Himmel ragenden Berge und rings um sie, wohl eine Demokratie in des Wortes edelstem Sinti waltet, doch in Symbiose mit einer Achtung vor Tradition und jederlei Herkommen, die wie von selbst dem Bodenständigen, Eingewurzelten, unbeschadet der Aufgeschlossenheit für jederlei wertvolles Neue, den gebührenden Platz zuweist. Den durch Geburt und Erziehung Bevorzugten gilt wenn sie sich persönlich dessen würdig zeigen, ein unleugbares „preiuge favo-rable“, ein günstiges Vorurteil, das dort gewährt wird, wo diese zwei Eigenschaften von Belang sind, also vornehmlich in der Armee und in der Diplomatie. Daran stößt sich in der Schweiz kein Einsichtiger. Da die alten Geschlechtern Entstammenden ihre Abkunft zumeist auch als besondere Verpflichtung betrachten, da sie ferner eine beträchtliche, den Durchschnitt überragende Anzahl von begabten Sprossen aufweisen, sind sie an den obersten Kommandostellen des Heeres wie im auswärtigen Dienst zahlreich anzutreffen.

Die Grafen de Reynold-Cressier, im Herbst des Mittelalters noch deutschsprachige Bauern, bald darnach Stadtbürger und französäsiert, haben an hervorragenden Männern vor allem hohe Offiziere, in französischen oder in eidgenössisch-kantonalen Diensten, und Staatsmänner, Politiker ihrer kleinen Heimat Fribourg aufzuweisen. Gonzague de Reynold hat sich als erster einen Namen von Weltruf gemacht. Von Weltruf? Wir zögern ein wenig. Denn so guten Klang dieser Name in der gesamten Schweiz, im französischen Sprachraüm — Belgien und Kanada eingeschlossen —, in einzelnen romanischen Ländern und seit einiger Zeit auch bei der' deutschsprachigen Hochbil-dnngsschicht besitzt, er ist außerhalb der FJdoenossenschaft nie in die breitere Öffentlichkeit vorgestoßen; ungeachtet oder gerade wegen der vollendeten Wortkunst, der Kenntnisvielfalt eines „hon-nete homme“, der aus dem 18. ins 20. lahrhundert hinüberragt. Der Name Burckhardt ist dagegen weithin ein Begriff; wenn nicht anders, so dank dem genialen Kulturphilosophen und Geschichtsschreiber lacob Burckhardt. Auch Carl J. Burckhardt stand als Völkerbundkommissär in Danzig, als Präsident des Internationalen Roten Kreuzes und als schweizerischer Gesandter in Paris im Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Als Schriftsteller hatte er durch seine wichtigsten Bücher — „Kleinasiatische Reise“, „Richelieu“, „Erinnerungen an Hofmanns-thal“, „Gespräch in Peking“, „Gestalten und Mächte“ und „Meine Danziger Mission“ — wie durch seine Quellenpublikationen — „Die Briefe Metternichs an den österreichischen Außenminister, Grafen Bu'il-Schauenstein“ — und den eigenen Briefwechsel mit Hofmannsthal berechtigtes Aufsehen und die Bewunderung de literarischen Kritik wie die der Historiker geweckt.

Diesen großen Schweizern und Europäern, dem nun einundachtzigjährigen Gonzague de Reynold und dem einund-siebzigjährigen Carl I I. Burckhardt, sind die beiden Bände geweiht. Der zweite Band der Memoiren de Reynolds reiht sich dem vorerschienenen an, der die Voraussetzungen schildert, kraft derer sich seine Persönlichkeit aus dem Ahnenerbe und aus der Umwelt erklärt. Nunmehr berichtet der Autor von seinen Erziehern und von seiner Erziehung: vom verehrten und geliebten Mutterbruder Oberst-Korpskommandant Techtermann, von den Eltern — erst in zweiter Linie —, von der jung verstorbenen Schwester und anderen Verwandten, Verschwägerten, dann von Fribourg, einem Piccolo mondo antico, einer Kleinwelt der Ahnen und von der aristokratischen Gesellschaft, die dort, auch, nachdem sie nicht mehr die ausschließlich politische Gewalt ausübte, in sich geschlossen, den Ton angab, mindestens gemäß ihrer eigenen Meinung. Zuletzt erscheint vor uns das Bildnis des geistlichen College St. Michael, an dem de Reynold seine Gymnasialzeit verbrachte, und das seiner Professoren, würdiger Priester, die einen nur vom Heiligen, andere vom Geist ohne Beisatz erfüllt. Kurz und gut, es ist eine Verbindung von „Sabre et Goupillon“, von Säbel und Weihwedel, die den Knaben und den Jungling vorgeformt hat, wobei begreiflich vom „Rouge et Noir“ nur das Schwarze endgültig übrigblieb.

Und jetzt hebt die Selbstformung an, die den Hochbegnadeten zur Dichtung und zur Geschichtsschreibung, Geschichtsdeutung hingeleitet. „Les autres m'ont fait vibrer comme un cristal sous le doigt; c'est ma propre resonnance qui leur a repondu.“ (Die anderen haben mich gleich einem Kristall unter ihrem Griff zum Schwingen gebracht;' mein Widerhall bnt ihnen geantwortet.) Der Widerhall, das sind zunächst „Träumereien“; keines einsamen Wanderers, wie die Jean-Jacques', sondern die eines sich Abhegenden, der in Ruhe und Ausgeglichenheit sich und die Welt betrachtet. Schon in der Schule verspürt er sein Anderssein, und er zieht sich in sich zurück, von der Mutter ermahnt und gewarnt: ..Dein Leben lang wirst du alle wider dich haben und nur auf dich selbst zählen können.“ Er aber: „Ich biß die Zähne zusammen, entschlossen, mich allen zum Trotz und gegen alle zu behaupten. Ich habe das getan, unbedacht, hochmütig und übermütig, voll Vergnügen daran, die öffentliche Meinung herauszufordern. Ich gestehe es ein, doch ich habe mich behauptet.“ Was zweifellos von ungewöhnlicher Charakterstärke zeugt, doch einem Auserkorenen leichter als anderen fiel, die nicht auf ihrem Vaterschloß saßen.

Schon das bereits Veröffentlichte der Erinnerungen beschert uns reichen Gewinn, den Einblick ins Werden einer außerordentlichen Persönlichkeit und die Schilderung der sich weitenden Kreise, in die sie eingeordnet war, ohne sich ihnen darnach zu unterordnen. Alles durchweht aber ein Geist selbstverständlicher, inniger Frömmigkeit und ironischer Heiterkeit, die sich damit, vom Lateinisch-Katholischen her, sehr wohl verträgt, und ein unaufdringlicher Patriotismus, den kein grundsätzlicher Gegensatz zu dieser oder jener zeitbedingten politischen Lage zu gefährden vermag. Da ist eben Dauer im Wandel.

Carl Burckhardt hatte es, obzwar mit vielleicht noch aussichtsreicheren Möglichkeiten beschenkt als de Reynold, schwerer denn sein Schwiegervater, der sich auf sein Cressier zurückziehen konnte, sooft er das wollte, und das auch wollte, sooft er das vor seinem Gewissen verantworten konnte. Burckhardt war gewissermaßen, wie die Römer sagten, zu konsularischen Würden geboren. Er sollte, er wollte, er mußte der Res publica, dem Gemeinwesen, dienen, dabei jeder Zoll ein Herr. In der äußeren Erscheinung, in der Gebärde, im Denken und im Tun. Man mag in einer schweizerischen erbbiologischen Zeitschrift die bis zu den 1024 Ahnen zurückreichende Vorfahrentafel des gefeiertsten Burckhardt nachlesen; die Carls dürfte kaum sehr anders sein. Wir werden also auf ihr vorwiegend den alten Schweizergeschlechtern begegnen, mit ihrem Vermächtnis an Kultur und Wissen, Tatkraft und Weitläufigkeit.

Die Hauptstationen der Lebensbahn des durch die Festschrift zu seinem 70. Geburtstag Geehrten haben wir schon berichtet. Ihnen und der Vielseitigkeit seines Wirkens als Diplomat, Historiker und Schriftsteller ist es zu danken, daß sich in diesem Band eine ansehnliche Zahl — sechsundsiebzig — der erlauchtesten Geister des deutschsprachigen und des französisch redenden Kulturkreises zur Huldigung vereint haben: Schweizer, Westdeutsche, Österreicher, Franzosen, dazu zwei Italiener, je ein Spanier, Exilpole, Ungar, Israeli. Es berührt merkwürdig, paßt aber durchaus zu diesem Kontinentaleuropäer, daß Angelsachsen fehlen, und es ist selbstverständlich, daß ihn keine Stimme aus dem Osten grüßt. Im übrigen aber: „Welch reicher Himmel — Stern an Stem!“ Bergengruen, Martin Buber, Cso-kor, Francois-Poncet, Goes, Heidegger, Heisenberg, Hesse, Heuss, Kerenyi, Kokoschka, Madariaga, Gabriel Marcel, Rene Massigli, Louis Massignon, Petitpierre, Przywara, Quaroni, Gonzague de Reynold, de Rougemont, Rychner, Rudolf Alexander Schröder, Maurice Schumann, Weizsäcker, Zuckmayer, um nur eine Auswahl der berühmtesten Namen zu verzeichnen, sie begrüßen den lubilar auf die mannigfachste Art. Die einen, ähnlich, wie es in der sowjetischen Anekdote vom Pulkin-denkmal steht: eine Kolossalstatue Stalins, ein Bändchen Puskinscher Verse in der Hand. Die zweiten, indem sie eine Zeichnung (^okoschka, Hans Erni) oder Verse (Csokor, die prächtigen Übertragungen Pindaros' von Staiger und Göngoras von Walter Maier) widmen, noch andere mit einer großartigen Deutung antiker (Kerenyi: Hercules fatigatus) oder indischer Kunst (Massignon: La tentation de l'ascete <?uka), mit Wesensschau auf chinesische Malgesinming (Preetorius). Da finden wir gehältige historiosophische Abhandlungen: Przywaras „Aporie und Mysterium der Geschichte“. Es ereignet sich, daß ein scheinbar abgelegenes Thema einer gar gediegenen und schönen Arbeit Anregung liefert: Christoph Bernouillis (ein anderer glorreicher Basler Patriziernamen) „Reichsstadt und Residenz, Städtebilder auf Münzen und Medaillen“. Staats- und völkerrechtliche Untersuchungen sind eingestreut, so Francois-Poncets über Staatenbund und Bundesstaat; womit wir zum Problem Europa gelangen, das so sehr mit der Person C. Burckhardts verknüpft ist (Gabriel Marcel, Gerard Bauer). Zwei überragende Naturwissenschaftler, Heisenberg und Weizsäcker, erörtern die Lage ihrer Disziplinen in unserer Gegenwart. Theodor Heuss erzählt in seiner unübertrefflichen Art von seiner ersten Begegnung mit der Schweiz. Vor allem aber fesseln uns die Dichter: die beiden großen Toten dieses Jahres, Hesse und Schröder, Graf Podewils (eine hinreißende Kurzgeschichte: „Wiederkehr“) und Schade-waldt („Das Reh“), dann die Analysen der Wesenheit des Gefeierten. Hoch ragen die taktvollen und gefühlsamen Beiträge de Rougemonts und Max Rychners daraus hervor.

In einem der Beiträge von Mario Ludwig steht der auf Burckhardt wie auf Gonzague de Reynold höchst zutreffende Satz: „Es gehört zu seinem Wesen, ein gutbehauster Mensch zu sein.“ Man darf diese Behauptung im ausgedehnteren Sinn auch auf die Bücher anwenden, die von jedem der beiden verfaßt oder die ihnen gewidmet sind. Dem ist in den eben besprochenen Werken durchaus Rechnung getragen worden. Sowohl der Genfer Verlag Laede-rers als auch der altbewährte Münchner

Callweys haben, der eine die Memoiren de Reynolds, der andere die Festschrift für Burckhardt, musterhaft ausgestattet. Druck, Papier, Einband befriedigen gleichermaßen. Was aber die Korrektur anbetrifft, so wäre bei der Festschrift einiges anzumerken: eb nun Massigli im Inhaltsverzeichnis einen Akzent aufs erste „e“ seines Vornamens Rene erhält oder ob ebenda Potulickis Gedächtnisblatt also betitelt wird: „Um (recte: Un) Souvenir il ya (richtig: d'il y a) vingt ans.“ Soll dieser winzige Schönheitsfehler zart andeuten, daß nichts auf Erden ganz vollkommen ist; nicht einmal, wenn es der Vollkommenheit so nahe kommt wie de Reynold und Burckhardt? Universitätsprofessor Dr. Otto Forst de Battaglia pünktlich“ und „Wanderer, kommst du nach Spa“ und aus dem späteren Band „Die schwarzen Schafe“.

Interessant ist bei der ostdeutschen Ausgabe die Auswahl. Wenn besonders die Geschichten Bolls berücksichtigt wurden, die den Widersinn des Krieges anprangern, dazu sozialkritische Motive aus der Nachkriegszeit, sollte man dahinter keine Propaganda wittern. Diese Anliegen standen und stehen im Mittelpunkt von Bolls Schaffen. Es ist vielmehr erfreulich, daß sie hier dem DDR-Leser, der die Anti-kriegs- und Friedensappelle so häufig mit einem antiwestlichen Akzent vorgesetzt bekommt, hier einmal im Gewand echter Dichtung eines westdeutschen Autors präsentiert Werden.

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