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Jahre der Wanderschaft

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Im Jahre 1920 enttäuschte den Heimkehrer die neu-alte Heimat. Am Nationalismus war Mitteleuropa zugrunde gegangen, und dennoch weigerten sich viele der führenden Köpfe, die Ursachen zu erkennen und an einer inneren geistigen Erneuerung als Voraussetzung für eine äußere schöpferisch zu arbeiten. Kohn weist auch auf den großen Unterschied, den er zwischen sich und den späteren, vielen, allzu vielen Flüchtlingen vor Hitler findet: diese fühlten sich fast überall als Exilierte, Vertriebene; Hans Kohn fühlte sich überall zu Hause, wo seine Ideale eines demokratisch betonten Humanismus herrschten — also nicht mehr in seiner bereits nationalistisch aufs schwerste verseuchten alten Heimat. Für ihn beginnen Jahre der Wanderschaft, des Suchens, aber auch des Findens.

Im Mai 1920 geht er zunächst nach Paris, wo er 15 Monate verbringt; er bleibt sich selbst treu. Seine Bewunderung für diese Kapitale der westlichen Welt, der Mode, der Geistigkeit blendet ihn nicht gegen die unglaubliche Polizeiherrschaft und -Willkür, die jeden Bewunderer und Freund Frankreichs, der darauf nicht vorbereitet ist, überrascht, bestürzt und empört, gegen den Klassenhaß, die Fremdenfeindlichkeit der Pariser und gegen die sensationslüsterne Oberflächlichkeit ihrer Presse, die jetzt freilich auch von vielen zentraleuropäischen Blättern erreicht, wenn nicht übertroffen wird.

Hans Kohn hatte in England — wie überall, wo er gelebt hat — eine humanitäre und ideale Heimat gesucht und gehofft, sie im Vereinigten Königreiche der Labour-Regierung zu finden. In der milden Fabiansozialistischen Bewegung führte George Lansbury, der den Frieden suchte und — lange vor Neville Chamberlain — auf Hitler hereinfiel. Kohn sah diese Entwicklung voraus, ahnte sie vielmehr, denn nur in England, das von Napoleon als eine Krämernation beschimpft worden war, gibt es diese hoffnungslos hoffnungsvollen Idealisten, die beglückt in jede gelegte Falle laufen und noch an das Gute in ihren Henkern glauben, wenn diese sie bereits in den Gasofen werfen, und verließ das Vereinigte Königreich. 1923 hatte ihn auf einer Reise Palästina begeistert, und so gingen Hans und Yetti Kohn nach Jerusalem, wo sie bis 1933 glücklich lebten.

Kohn ist voller Anerkennung für die Mandatsmacht England, was ihm unmöglich die volle Freundschaft der Zionisten eingetragen haben dürfte: aber er kann und will die Leistungen der britischen Zivilisatoren im „Eretz“ nicht ableugnen, obwohl ihm an sich die französische Geistigkeit näher liegt als die englische. Entsetzt über die Ausschreitungen des an die Macht kommenden Nazismus in Deutschland, mißbilligt der Historiker den antiarabd-schen Zelotismus der Zionisten.

Bevor Kohn 1933, also im Jahre des „Machtantrittes“ Hitlers — und auch Franklin D. Roosevelts — in die Vereinigten Staaten übersiedelte, war er nicht nur -freier Schriftsteller, sondern aus Broterwerbsgründen Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“, jenes deutschen Blattes, das im pränazistischen Deutschland die Rolle der „Neuen Freien Presse“, der Londoner „Times“ und der „Neuen Zürcher Zeitung“ spielte. Natürlich trugen ihm diese journalistischen Verbindungen wichtige BeZiehungen zu den bedeutendsten Zeitgenossen ein und verschafften ihm überall ein Entree, das die Historiker im allgemeinen nicht haben. Ähnlich wie Martin Buber, dem Kohn ein biographisches Werk widmete, unterbrach er seinen Jerusalemer Aufenthalt oft durch Vortragsreisen, die er nicht nur zum Belehren seiner jeweiligen Hörerschaft, sondern auch zum Lernen benützte. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten wurden besucht, und ein Ruf an das berühmte Smith College, wo Hans Kohn europäische Geschichte der Neuzeit lesen sollte, ließ ihn im Neu-England-Staat Massachusetts Fuß fassen. Später wurde er an das City College, heute zur New Yorker Städtischen Universität gehörig, berufen, an welchem er bis zur nun schon drei Jahre zurückliegenden Emeritierung tätig war.

Soweit die Lebensbeschreibung des Historikers gezeichnet — seine Werke wurden dabei kaum erwähnt, obwohl eines seiner letzten Bücher „The Mind of Germany“ (Ch. Scrib-ner, New York; deutsche Ubersetzung im Nest-Verlag, Nürnberg) zu den besten englischgeschriebenen geistesgeschichtlichen Werken des deutschen Intellekts gehören2. Seine Autobiographie ist weder die Selbstdarstellung eines Amerikamüden, noch eines Europaüberdrüssigen. Kohns Ausblick und Schlußfolgerung auf Grund seiner Erfahrung, der von ihm erlebten Geschichte, ist merkwürdig und etwas unorthodox:

Der Weg, den die Geschichte nimmt, ihr „Sinn“ führt nicht zu einer einheitlichen, harmonischen Welt — sie sei „demokratisch“ nach „westlichen“ Ideen oder „kommunistisch“, wie es der Ostblock wünscht. Das Schlagwort der amerikanischen Abolitionsbewegung, eine Nation könne nicht „halb frei“ und „halb versklavt“ bestehen, trifft auf die Gesamtheit der Nationen nicht zu. Was wir heute Koexistenz nennen, ist nach Kohn ein Prinzip der Geschichte. Aber auf Grund dessen, was er erlebt hat, was er durchdacht, erforscht und niedergeschrieben hat, glaubt der heute Vierundsiebzig jährige an vielfache Fortschritte zu wahrer menschlicher Freiheit für eine Mehrheit der Erdbewohner — an ihre „eine Bestimmung... sich als Menschen auszubilden“ (Schiller).

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