Die vier Leben Walter Grabs

19451960198020002020

Der aus Wien vertriebene Jakobinerforscher erinnert sich.

19451960198020002020

Der aus Wien vertriebene Jakobinerforscher erinnert sich.

Werbung
Werbung
Werbung

Im Herbst 1978 schien sich ein alter Traum zu erfüllen, eine Professur in Deutschland, zum ersten Mal deutsche Studenten in deutscher Sprache über deutsche Literatur und Geschichte zu unterrichten. Spät, gewiss, eigentlich hätte er es bereits 30 Jahre früher tun können, Mitte der vierziger Jahre an der Wiener Universität etwa, aber damals war keine gute Zeit für Juden. Doch welche Enttäuschung: Die Studenten, die er an der Universität Duisburg antraf, waren nicht sonderlich interessiert an deutscher Geschichte und Literatur, und auf seine Frage, was sie in seiner Vorlesung suchten, gaben sie dem Dozenten aus Tel Aviv ungeschminkt zur Antwort: "Bafög!" Geldliche Unterstützung für Studenten war das Motiv, den berühmten Gastprofessor aus Israel zu hören, nicht Interesse an der Literaturgeschichte.

Walter Grab, von dem hier die Rede ist, hat jetzt seine Erinnerungen vorgelegt. Daß er ein fesselnder Erzähler ist, Zuhörer in Bann zu schlagen vermag, bezeugt jeder, der ihm begegnet ist. Und die vier Leben, von denen er packend berichtet, sind drei mehr als üblich.

Ganz im Heineschen Sinne war das Leben, auf das er zurückblickt, ein Leben - und was für eines! "Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird..." Grab, wer sonst, kennt jene Stelle aus Heines "Reisebildern", wobei oft geflissentlich verschwiegen wird, wie das Heine-Zitat zu Ende geht, nämlich mit dem Hinweis, daß unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte liegt.

Was er an der deutschen Universität antraf, war ganz und gar nicht mehr die deutsche Kultur, die er unfreiwillig im Juni 1938 verlassen mußte, drei Monate nach der "Heimholung" ins (Großdeutsche) Reich. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dem er die österreichische Hauptstadt verließ, die Stadt, in deren Kultur er 1919 hineingeboren wurde, deren Atmosphäre ihm immer vertraut blieb, die ihm die beste Erziehung zuteil werden ließ - und ihn, zutiefst beleidigt und verletzt, davonjagte.

In den dreißiger Jahren wurden die Zuwanderer von den bereits in Palästina ansässigen Juden meist nicht sonderlich freundlich empfangen, schon gar nicht die aus dem "Großdeutschen Reich". "Kommen Sie aus Zionismus oder aus Deutschland/Österreich?" lautete eine gern gestellte Frage zur Begrüßung, die mehr ernst als ironisch gemeint war. Auch Grab, der nicht gerade aus zionistischem Antrieb nach Palästina geflohen war, spürte gleich die doppelte Bürde, vertrieben sein, ohne aufgenommen zu werden. Er war verwurzelt in der deutschen Kultur und hatte auf den Rat seiner Eltern alte Sprachen und Englisch gelernt. In Palästina mußte er sich von einem nahen Verwandten, der ihm vorhielt, nicht bereits in Wien Hebräisch gelernt zu haben, die Frage gefallen lassen: "Auf Hitler hast du gewartet?"

Der so Gescholtene war nicht imstande, begreiflich zu machen, daß er sich mit der deutschen Kultur identifizierte, nicht mit der Sprache der Nazis, sondern mit der Menschheitskultur, die verschiedene Sprachen spricht. Deutsche Sprache und Kultur waren in Palästina verpönt. Grab selbst hat miterleben müssen, wie im Mai 1942 Arnold Zweig in Jerusalem bei einer deutsch gehaltenen Rede von fanatischen Zionisten vom Rednerpult geprügelt wurde.

"Auf Hitler hast du gewartet?" Die fünf Worte machten Grab mit einem Schlag bewußt, daß er in eine andere Welt geworfen worden war. Hatte der Verwandte, der 20 Jahre zuvor als Zionist eingewandert war, nicht recht? Was sollte der 20jährige Grab mit seinem kosmopolitischen Weltbild diesem Onkel entgegen? Jenes internationalistische, sozialistische Ideal, das Grab in sich trug, mußte in einer aus den Fugen geratenen Welt zur Illusion verkümmern. Die politischen und persönlichen Umstände wollten es, daß er sich in Palästina einrichten mußte. Den akademischen Weg, der ihm vorgezeichnet schien, konnte er vorläufig nicht einschlagen. Existentielle Sorgen bestimmten seinen palästinensischen Alltag. Erst viele Jahre später entschloß er sich, sein in Wien jäh unterbrochenes Studium an der neuen Universität Tel Aviv wieder aufzunehmen, diesmal in Geschichte und nicht in Jura, wozu ihn seine Familie in Wien gezwungen hatte. Und was für eine universitäre Lebensleistung hat er seitdem vollbracht! Seine Fähigkeit als "Gedächtniskünstler", sein erstes Leben, hat ihm dabei gute Dienste geleistet.

Grab ist heute ein weltweit geachteter Historiker, der sich als Jakobinerforscher Reputation und Renommee erworben hat. Welch eine Ironie, oder besser: Beschämung, daß ausgerechnet dieser deutsch-jüdische Gelehrte wie kaum ein anderer die unterdrückten und verschütteten demokratischen Traditionen erforscht, in Tel Aviv wohlgemerkt und nicht in Freiburg oder Wien. Warum, so möchte man weiter fragen, hat es auf diesem Forschungsfeld keinen Einklang mit Historikerkollegen in Deutschland und Österreich gegeben? Grab gebührt auch das Verdienst, die Tradition, Lyrik allein unter ästhetischen und nicht auch politisch-demokratischen Aspekten zu interpretieren, korrigiert zu haben. Vor ihm hat die deutsche und österreichische Wissenschaft von den radikalen Demokraten der Revolutionsepoche keine Notiz genommen. Und ist es nicht auch eine beschämende Ironie, daß er in Tel Aviv ein Institut für deutsche Geschichte begründet hat, zu dem es an keiner deutschen Universität eine Entsprechung gibt? Österreichs damaliger Bundeskanzler Bruno Kreisky hat das Grab gegebene Wort, staatliche Mittel für ein Institut für österreichische Geschichte in Tel Aviv bereitzustellen, nicht eingehalten.

Als "fahrender Scholast aus dem Morgenlande" bereiste er die Welt. Seine Vorträge sprühen von Witz, seine Anekdoten kommen treffsicher, und trotz der schmerzlichen Erfahrungen, die Grabs ständiger Lebensbegleiter waren, überwiegt seine Lust auf Leben, verliert er nie den Glauben an eine gerechte, egalitäre Gesellschaft. Was seine Erinnerungen so interessant macht, ist die selten gewordene Eigenschaft, sich dezidiert zu seinem politisch-ideologischen Standpunkt zu bekennen. Durch jede Zeile ziehen sich seine sozialistischen Überzeugungen. Euphemistische Formulierungen kommen ihm nicht über die Lippen. Kein gesellschaftlicher Mißstand bleibt bei ihm unausgesprochen, Rücksichten hat er nie genommen, und anderen nach dem Mund geredet auch nicht.

Der Autor unterrichtet im Fach Jüdische Studien an der Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg.

Meine vier Leben. Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat. Von Walter Grab.

PapyRossa Verlag, Köln 1999. 432 Seiten, geb., öS 364,-/e 26,45

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung