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Im Herzen Europas

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EINLADUNG NACH PRAG. Herausgegeben und elngeleitet von Traugott Krschke. Verlag Albert Langen-Georg Müller, München-Wien. 346 Seiten. — GESCHICHTE DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK 1918 bis 1965. Von Jörg K. Hoensch. Urban- Bücher Nr. 96. W.-Kohlhammer-Verlar. Stuttgart. 180 Selten. DM 4.80.

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EINLADUNG NACH PRAG. Herausgegeben und elngeleitet von Traugott Krschke. Verlag Albert Langen-Georg Müller, München-Wien. 346 Seiten. — GESCHICHTE DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK 1918 bis 1965. Von Jörg K. Hoensch. Urban- Bücher Nr. 96. W.-Kohlhammer-Verlar. Stuttgart. 180 Selten. DM 4.80.

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Die goldene, die hunderttürmige Stadt, die Mutter der Städte, groß geworden im Spannungsfeld von Ost und West, gehört zu den wenigen alten Städten Europas, die in der äußeren Gestalt fast unversehrt den zweiten Weltkrieg überdauert haben. Die Tschechen empfanden Prag seit je als das Herz Böhmens. Ganz nahe daran liegt der mathematisch-geographische Schwerpunkt des europäischen Kontinents, und wirklich war Prag der Mittelpunkt der schwersten und blutigsten Auseinandersetzung des kontinentalen Europas: Der Dreißigjährige Krieg begann mit dem „Fenstersturz“ auf dem Hradschin und endete auch dort mit dem letzten Gefecht. Kaum anderswo manifestieren sich europäische Kultur und Geistesgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte in ähnlicher Konzentration. Aber auch mehr als in anderen europäischen Hauptstädten war in Prag Geschichte stets auch Gegenwart, und die Gegenwart war immer so intensiv und schnellebig, daß sie rascher als irgendwo Vergangenheit und Geschichte wurde. Dieser Kreislauf ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen; seit vielen Monaten erregen die Ereignisse und Auseinandersetzungen in der Moldaustadt weltweite Aufmerksamkeit. Prag, das nach zwanzigjähriger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umstrukturierung etwas müde schien, steht wieder einmal vor einem Neubeginn und holt Atem für eine noch ungewisse Zukunft, die in Richtung vom dialektischen zum dialogischen Sozialismus verlaufen soll.

Aus der immer zahlreicher werdenden Literatur, die Prag „entdek- ken“ oder eine „unbewältigte Vergangenheit“ erhellen möchte, seien zwei Bücher herausgegriffen. Der aus Nordmähren stammende Dramatiker und Erzähler Traugott Krischke stellte eine vielstimmige Laudatio auf Prag zusammen, die von Berichten arabischer Gesandter an germanischen Fürstenhöfen aus dem 9. und 10. Jahrhundert bis in unsere Tage reicht. Nach einer ausführlichen Einleitung läßt er unter vielen anderen Hegel, Schopenhauer, Berlioz, Chopin, Mozart, Wagner, Weber, Clemens von Brentano, Claudel, Goethe, Grillparzer, Hebbel, Laube, Liliencron, Valery und natürlich die „Prager Dichter“ zu Worte kommen. Wie jede Auswahl subjektiv, gelang hier doch eine recht originelle literarische Dokumentation zum Mythos Prag. Die Stimmen, die von ihm ergriffen wurden, tönen unterschiedlich. Im 1. Teil besticht die kluge, abgewogene Betrachtung von Johannes Urzidil über „Probleme des tschechischen Geschichtsbildes“. Einen Tiefstand dürfte Liliencrons Reimerei bedeuten: „Viel hundert Sagen singen und Geschichten, ganz Praha ist ein Goldnetz von Gedichten.“ Unwägbares, Atmosphärisches dieser „polemischen Stadt“ (Max Brod), in der Natur und Kultur so sehr ineinandergewachsen sind, wird man gültig in den Worten des Kunsthistorikers und Essayisten Wilhelm Hausenstein festgehalten finden, wenn er von der „begünstigten Lage einer Stadt“ spricht, „die Berg und Tal, Erde und Wasser, breites, schiffbares Wasser, und auch den Reichtum der Bäume ihr eigen nennt; die, vom Schwärzlichen bis zum Rosigen, vom Schweren, ja Drückenden und Gefährlichen der Tiefe bis zur seelenhaften Zartheit und Lichtheit eines Margens über der Höhe des Hradschins, alle Zeichen einer gewachsenen Natur, einer wahrhaft landschaftlichen Stadt besitzt“. Diesen Einblick in einen entscheidenden Wesenszug der Stadt mag der klagende Jubel des rückwärtsschauenden Wilhelm Raabe über die Faszination ergänzen: „O Prag, du tolle, du feierliche Stadt, du Stadt der Märtyrer, der Musikanten und der schönen Mädchen, o Prag, welch ein Stück meiner freien Seele hast du mir genommen!“

Jörg K. Hoensch (Jahrgang 1935), aus dem schlesischen Freudenthal (CSSR) gebürtig, studierte Geschichte, Anglistik und Germanistik in Marburg, Wien, Bristol, Tübingen und an der University of California in Berkely und ist demnach schon von den Studien her alles andere als einseitig orientiert. Da er zudem deutsches, tschechisches, englisches, amerikanisches und russisches Quellenmaterial benutzte, hält seine Darstellung der tschechoslowakischen Entwicklung von 1918 bis 1965, die sich auf Fakten beschränkt, eine ungefähre objektive Mitte zwischen ressentimentgeladenen sudetendeutschen und kommunistischtschechischen Interpretationen. Wäre es nicht längst an der Zeit, ein für allemal mit der Vergangenheit abzurechnen, einen Punkt hinter allem zu setzen und die Tatsachen so anzuerkennen, wie sie in Wirklichkeit sind? Dazu aber müßten sich beide Teile zu den Orgien des Chauvinismus in der Ersten Republik, zu den Greueln und Grausamkeiten während der Besetzung durch den großdeutschen „Befreier“ und der aus Haß und Rache diktierten barbarischen Operation der Vertreibung von dreieinhalb Millionen bekennen. Das geschah übrigens nicht zum erstenmal; der vierte Wenzel und die Hussiten hatten schon einmal die meisten Deutschen aus Böhmen vertrieben. Und hatte im Grunde die Vertreibung des deutschen Elementes aus Prag und den böhmischen Ländern nicht schon mit der Deportation der Juden begonnen?

Solche und ähnliche Gedanken und Fragen ergeben sich bei der Lektüre des schmalen Bändchens von Hoensch, eigentlich nicht mehr als einer anregenden Skizze, die einmal zu einer umfassenderen, gründlicheren Untersuchung und Interpre tation ausgeweitet werden sollte. Der Autor bringt hierfür gute Voraussetzungen mit, wie seine beachtliche Arbeit über „Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik“ beweist. (Nur sollte er in weiteren Publikationen die allzu häufige Bezeichnung: Führer endgültig vermeiden, noch dazu, wo er ansonst die Rolle dieses bestenfalls Verführers absolut unbeschönigt anprangert.) Hoensch kommt am Ende auch auf die jungen „Spezialisten“, die Generation der Vierzigjährigen und auf die „von Intellektuellen und der Jugend mit Schwung vorgetragenen Kritiken“ zu sprechen und prophezeit den Reformern Erfolg, wenn sie „mit den traditionellen tschechischen Eigenschaften, mit Pragmatismus, aber auch politischer Reife und Vorsicht“ ein System allmählicher Änderungen in Gang bringen werden. In dem neu zu schreibenden Buch über die Geschichte der tschechoslowakischen Republik 1918 bis 1968 wären dann auch die neuesten Entwicklungen miteinzubeziehen, die der Prager Korrespondent der Londoner „Times“ auf die lapidar kürzeste Formel gebracht hat: „Statt der russischen Organverpflanzung schlägt wieder das alte mitteleuropäische Herz.“

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