Richard Swartz - <strong>Osteuropa-Kenner</strong><br />
Richard Swartz arbeitete lange Zeit als Korrespondent für das Svenska Dagbladet, machte sich mit seinem journalistisch-anthropologischen Blick aber auch als Autor fiktionaler Texte einen Namen - © Getty Images / ullstein bild

Surreal-theatralischer Sozialismus

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„Austern in Prag“, der neue autobiografische Roman des schwedischen Autors Richard Swartz, nimmt den Leser mit<br /> auf eine packend-verwirrende Reise in die Tschechoslowakei kurz nach dem Prager Frühling.

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„Austern in Prag“, der neue autobiografische Roman des schwedischen Autors Richard Swartz, nimmt den Leser mit<br /> auf eine packend-verwirrende Reise in die Tschechoslowakei kurz nach dem Prager Frühling.

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Als ich mich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wegen eines Projektes über Österreicher in der DDR öfters im östlichen Teil Deutschlands aufhielt, lernte ich einen neuen Begriff kennen, nämlich den „Ostkoller“. Das ins Dritte Reich zurückreichende Wort verwies verharmlosend auf die psychischen Konsequenzen der Erfahrungen deutscher Soldaten im „Osten“, wurde aber im Kalten Krieg adaptiert. Warum wollte jemand über das absolut notwendige Maß hinaus freiwillig in einem Land des real existierenden Sozialismus leben?

In Richard Swartzʼ ungewöhnlichem autobiografischem Buch geht es genau darum. Ein junger schwedischer Absolvent der Wirtschaftswissenschaften, der absolut keine Lust hat, dem väterlichen Wunsch nach Eintritt in den Ernst des Lebens Folge zu leisten, will seine unbeschwerte Jugend noch um einige Zeit verlängern. Mittel der Wahl ist ein Stipendium an der Prager Universität, das der Erarbeitung einer Dissertation dienen soll. Es ist Herbst 1970, die Tschechoslowakei „nach dem Frühling“ schwankt zwischen Verzweiflung, Zynismus und Alkoholismus.

Folgenreiche Initiationsreise

Mit dem Dissertationsprojekt ist es bald vorbei. Reformökonomen wie Ota Šik oder Radoslav Selucký dürfen nicht erwähnt werden; der resignierte Betreuer weiß es zwar besser, ist jedoch gezwungen, den jungen Schweden mit nutzlosem und realitätsfernem Zahlenmaterial zu versorgen, um den Schein einer wissenschaftlichen Tätigkeit vorzutäuschen. Dieser wendet sich allerdings der Literatur zu – Hašek, den Brüdern Čapek, Hrabal –, die ihm adäquatere Einsichten bietet.

Bald stellt sich ihm die zentrale Frage: „Was für einer bin ich eigentlich? Bereits dass ich mich hier unter ihnen in Prag aufhalte, sozusagen auf der falschen Seite, hat zur Folge, dass ein Schatten des Misstrauens auf meine Person fällt. Und ich bin angeblich ganz und gar freiwillig hier. Freiwillig. Wie ist das möglich? Und, um Himmels willen, warum?“ Zunächst, so findet man schnell heraus, zum Abstauben. In den ersten Kapiteln geht es um junge Damen und das Problem der Liebe im Kalten Krieg; der schwedische Schelm macht auch gar kein Hehl daraus, dass er es genau darauf abgesehen hat. Gleichzeitig ist seine Naivität grenzenlos. Das Buch verwendet viel Platz auf die Erkenntnis, dass Personen aus dem Westen „große Raritäten, eine Art Trophäe“ sind. Dass die erotische Ausstrahlung seines Passes stärker ist als die seiner Person, schockiert ihn, ja es „untergräbt sofort mein Selbstvertrauen“.

Prag ist der falsche Ort, um zum Ausgang der 1968er die Jugend zu verlängern. Stattdessen entwickelt Swartz hier den journalistisch-anthropologischen Blick, für den der spätere Osteuropakorrespondent von Svenska Dagbladet und Autor fiktionaler wie nichtfiktionaler Werke über das ganze sozialistische Lager und, in jüngerer Zeit, über Istrien und die nordöstliche Adria bekannt geworden ist. Es handelt sich um eine Initiationsreise, die den unbekümmerten Ökonomiestudenten angesichts der extremen Entfremdung des Menschen in der tschechoslowakischen Desillusion in Schock versetzt.

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