6884861-1979_23_06.jpg
Digital In Arbeit

Minenfelder um die Bürger

Werbung
Werbung
Werbung

Das Verzeichnis der „Sünden“ und „Verbrechen“, die ein echter Marxist und Kommunist in den Staaten des „realen Sozialismus“ begehen kann, ist nicht so groß, wie man im Westen glaubt. Den Parteipropagandisten ist es vor allem in Prag seit 1968 gelungen das „Sünden- und Verbrechenregister“ auf einige Begriffe zu reduzieren, deren Inhalte unklar und leicht verwechselbar sind, jedoch ganz klar und deutlich auch für das einfachste Parteimitglied oder für jeden „Werktätigen“ den Raum seiner politischen und geistigen Aktivitäten einschränken.

Begriffe wie etwa „Revisionismus“, „Antisozialismus“, „Zionismus“ und dergleichen scheinen auf den ersten Blick zwar fest in der einzig wahren „marxistisch-leninistischen Lehre“ verankert, unterliegen jedoch verschiedenartigen Interpretationen, bei denen es nicht so sehr auf die „Prinzipien der Grundlehre“ ankommt, sondern vielmehr auf die Notwendigkeiten und Zwänge der schnell nacheinanderfolgenden und überraschend wechselnden Propagandakampagnen.

Dieses schnelle Wechseln der propagandistischen Notwendigkeiten trieb selbst die gebildetsten marxistischen Theoretiker in Verzweiflung. Eines Tages war noch Stalin der geniale Führer des Proletariates, ja sogar der „große Sprachwissenschaftler“ - und am anderen Tag wieder ein Verbrecher, oder fast einer...

Diese und zahlreiche andere ideologischen Purzelbäume, die natürlich nicht nur den harten Kern der kommunistischen Parteien verunsicherte, sondern immer wieder vor allem in den Reihen der Intellektuellen, das „Gift des Revisionismus“ verstreuten und gefährliche Ansteckungen hervorriefen, hatten 1968 in Prag Ausmaße einer schon unkontrollierbaren Epidemie erreicht, die man nicht mehr mit ideologischen Mitteln stoppen konnte. So blieb den Sowjets und ihren Verbündeten eigentlich nichts anderes übrig, als es mit Gewalt zu versuchen.

Eine Lehre hat die KP aus dem aufregenden Jahr 1968 doch gezogen. Um Klarheit zu schaffen, hatte man die Grundbegriffe der einzig „wahren und echten Wissenschaft“ stark auf Symbole reduziert, über die man nicht mehr diskutiert, sondern die man wie Minenfelder rund um dem Bürger anlegt. Das Betreten des „Revisionismus“ (unter diesem unklaren Begriff sind alle anderen in verschiedenen Varianten zu finden) ist natürlich tödlich...

So findet man bei näherer Betrachtung unter dem Sammelbegriff „Revisionismus“ auch die Gefahrenzone der Vergangenheitsbewältigung. Die tragische Epoche des Stalinismus wird natürlich als „überwunden“ bewertet, die anderen Vergangenheiten mit Hilfe einer sterilen Phraseologie konserviert- Die Zeit des Zweiten Weltkrieges, also als es ein „Protektorat Böhmen und Mähren“ gab, wird als eine Epoche des heldenhaften Widerstandes der Kommunisten gegen die Nazis beschrieben, wobei natürlich peinlichst verschwiegen wird, daß tschechische Patrioten in der Zeit starben, als Ribbentrop und Molotow sich in die Arme fielen und Polen teilten.

Die Vertreibung der 3,5 Millionen Deutschen aus der CSSR, ist für die kommunistischen Propagandisten auch kein Problem, denn schließlich handelte es sich damals um einen Akt des „Klassenkampfes“, der den wahren Interessen des „ganzen Volkes“ diente. Schwieriger ist es jedoch mit der Vergangenheitsbewältigung, soweit sie die Ausrottung böhmischer Juden im Krieg und den klassenkämpferisch getönten Antisemitismus anfangs der 50iger Jahre betrifft.

In dieser Zeit wurde der damalige Generalsekretär der KP, Rudolf Slänsky, und weitere Juden als „Agenten im Dienste des Zionismus“ verurteilt und hingerichtet. Rudolf Slänsky und alle mit ihm hingerichteten „Zionisten“ wurden zwar noch vor dem Prager Frühling zaghaft rehabilitiert, doch die Tatsache, daß viele von ihnen Juden waren, blieb an den Toten bis heute hängen.

Das Problem der Vergangenheitsbewältigung wird also von der Partei sterilisiert und mit einigen Phrasen abgetan.

Die ersten Versuche, die Vergangenheit der Tschechen zu bewältigen, fallen nicht erst in die aufregenden Zeiten des Prager Frühlings zurück, sondern bahnten sich in der Literatur schon anfangs der sechziger Jahre an. Josef Skvorecky in seinem Roman „Die Feiglinge“, Jan Pro-chäzka in seinem Film „Die Kutsche nach Wien“ oder Dr. Vladimir Blazek in der Brünner Literaturzeitschrift „Host do domu“, versuchten das „deutsche Problem“ doch anders als die offizielle Ideologie zu bewältigen. Das Judenproblem blieb aber bis in die heutige Zeit ausgeklammert, wenn es auch nicht vergessen wurde.

In der Prager Untergrundedition „Hinter Schloß und Riegel“ erschienen zwei Romane (Auflage: 30mal auf der Schreibmaschine abgetippt...), die das peinliche Schweigen über das Schicksal böhmischer Juden durchbrechen.

Karl Sidon publizierte im Prager Untergrund seinen Roman „Gottes-dorn“, in dem er die Schicksale eines jüdischen Jungen in Prag bis in die heutige Zeit verfolgt und sein verzweifeltes Suchen nach der Identität schildert. Er begegnet nicht einem offenen Antisemitismus, sondern immer nur einem vieldeutigen Achselzucken: „Ja, lieber Freund, du bist zwar fast wie wir, aber immerhin bist du ein Jude...“

Lumir Civrny, ein Lyriker, gab vor einem Jahr im Prager literarischen Untergrund seinen ersten Roman „Das Gedächtnis des schwarzen Baumes“ heraus.

Dieser Roman schildert die Flucht eines jüdischen Arztes aus Prag nach der deutschen Besetzung von 1939, die ihn durch viele Staaten Europas treibt. 1945, nach seiner Rückkehr nach Prag, überhören seine sensiblen Ohren trotz der Euphorie der Befreiung nicht die Gefahren, die ihm, einem Juden, schon wieder drohen. Und wieder muß er sich die Frage stellen: Wohin geht mein Fluchtweg?

Beide Autoren, Karel Sidon und Lumir Civrny, zählen natürlich in Prag zu den Verdammten. Ihre Schuld, ihre Verbrechen, genau wie die „Verbrechen“ so vieler anderer tschechischer Intellektuellen, .besteht einzig und allein darin, daß sie es noch wagen die Minenfelder, die den engen Raum umgeben, in dem das marxistische „Sündenregister“ Platz findet, zu übertreten.

Jede Fragestellung, die sich außerhalb des Raumes bewegt, die die Partei ganz einfach und übersichtlich mit Hilfe der Phraseologie abgrenzt, wird natürlich als eine feindliche Provokation betrachtet und bestraft.

Eine Vergangenheitsbewältigung findet in Prag nicht statt. Denn die Vergangenheit ist laut der ideologischen Phraseologie überwunden, alles ist dank der einzig „wahren und echten Wissenschaft aller Wissenschaften“ geklärt; und wer noch an dieser marxistischen Klärung zweifelt, ist eben ein Revisionist, ein Anti-sozialist und womöglich, wie im Fall Sidon und Civrny, ein Zionist...

Wen diese Verdammung trifft, der ist zugleich ein toter Mann...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung