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Traum von den Elysäischen Feldern

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Die Haltung der sowjetischen Satellitenstaaten gegenüber der mit soviel Lärm angekündigten und dann gescheiterten Gipfelkonferenz war von vornherein nicht einheitlich. Selbstverständlich wurde überall dem Wunsch Ausdruck verliehen, daß die Koexistenz zwischen Sozialismus-Kommunismus und kapitalistischer Welt Wirklichkeit werde, wie das Chruschtschow unablässig gepredigt hatte. Hinter dieser offiziellen Lesart verbargen sich aber die sehr unterschiedlichen und „unheiligen Egoismen“ der einzelnen Regierungen, die Sonderempfindungen der Völker, deren Mannigfaltigkeit sogar unter der Gleichschaltung durch den Bolschewismus nicht auszurotten ist.

DIE GEWINNER VON SWERDLOWSK

Polen und Ungarn hätten aufrichtig eine dauernde Entspannung begrüßt, die den derzeitigen Machthabern keinen Schaden gebracht hätte. Jugoslawien wäre durch einen Waffenstillstand im kalten Krieg insofern ungünstig betroffen worden, als es dadurch als potentieller Verbündeter oder mindestens als freundlich Neutraler an Wert stark verloren hätte. Rumänien war einstens an einem leidlichen Ausgleich zwischen den vier Großen, anderseits an milder Fortsetzung des kalten Krieges interessiert. Ganz eindeutig gegen einen Erfolg der Pariser Zusammenkunft kehrten sich die Machthaber in Pankow, in Prag, in Sofia und in Tirana. Die Gründe dafür sind deutlich. Die DDR ersehnt einen Sonderfrieden mit der UdSSR und mit deren Satelliten und möglichst entschiedene Unterstützung für ihre Position innerhalb Gesamtdeutschlands. Jede Annäherung des großen russischen Beschützers an den Westen wäre dem abträglich, jede Zuspitzung des Konflikts der Sowjetunion mit den bürgerlichen Demokratien den Plänen Ulbrichts von Nutzen. Bulgarien und Albanien sehen die Weltlage unter dem kleineren Gesichtswinkel ihres Gegensatzes zu Jugoslawien und der Hilfe, die dieses Land seitens der USA erfährt oder erhalten kann. Die Maßgebenden in der Tschechoslowakei endlich erblicken im Antagonismus zwischen Moskau und Washington eine Bürgschaft dafür, daß sie nicht eines Tages durch ein Wiederaufleben des Problems der Sudetendeutschen bedroht werden und daß die Bonner Bundesrepublik weiterhin das wichtigste Angriffsziel der europäischen Politik des Kreml bleibt.

Hier begegnet sich die tschechoslowakische Außenpolitik mit der chinesischen. Wenn Mao Tse-tung nach dem Fiasko des Pariser Gipfeltreffens salbungsvoll seufzte, nun werde doch auch der größte Illusionist, der Eisenhower für einen Mann des Friedens angesehen habe, den Irrtum erkennen, so bedeutet das nur den gedämpften Freudenschrei darüber, daß zwischen den USA und der UdSSR kein längerer Waffenstillstand ausgebrochen ist. Wenn Tito aus China nach wie vor mit Tadel und Schmähungen überschüttet wird, wenn man ihn jetzt auch zu Moskau nicht mehr mit seidenen oder wenigstens mit wollenen Handschuhen anfaßt, so bezeigt das vornehmlich den Zorn, nicht über den irrenden Sünder wider die reine Lehre Marx' und Lenins, sondern über den Freund Nehrus, den unsicheren Kantonisten, der amerikanische Kredite, Waren und Waffen akzeptiert und der den Chinesen an zahlreichen exotischen Orten diplomatisch in die Quere kommt. Es erklärt sich also die Einheitsfront der über den „Krach von Swerdlowsk“ Jubelnden, der Herrschenden in Peking, Pankow, Prag, Sofia und Tirana aus der Konkordanz der eigenstaatlichen Egoismen und auch aus der Interessenverknüpfung, die zwischen den Pekinger Gewaltigen, den Stalinisten überall sowie den Cliquen um Ulbricht, Novotny, Zivkov und Enver Hodscha besteht.

SIE WOLLTEN ES NICHT WAHRHABEN

Budapest und Warschau waren demgegenüber bis zuletzt auf ein Gelingen der Pariser Konferenz eingestellt. Wenigstens in den breiten Schichten, in der Pressepropaganda und, vermutlich bis zum 5. Mai, sogar in den oberen Regionen der Partei.

Noch am 20. März, anläßlich des Besuches Kädärs in Warschau, war eine gemeinsame polnisch-ungarische Erklärung veröffentlicht worden, in deren Mittelpunkt das Bekenntnis zur west-östlichen Koexistenz und die Hoffnung auf einen Erfolg der Gipfelkonferenz standen. Vom 24. März bis zum 8. April weilte der Vizepremier der Warschauer Regierung, Jaroszewicz, als Gast in den USA, wo er überall die freundlichste Aufnahme fand und den besten Eindruck erweckte. Von New York hatte er sich nach Washington begeben, wo er von Eisenhower, Herter und anderen führenden Persönlichkeiten empfangen wurde. In den ersten Maitagen hoben die Vereinigten Staaten das für ihre Bürger geltende Verbot zu Reisen nach Ungarn auf. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, daß der britische Außenminister Selwyn Lloyd in absehbarer Zukunft nach Polen reisen werde. Eine Delegation katholischer Intellektueller, geleitet vom Mitglied des kollektiven polnischen Staatsoberhaupts - der Rada Pahstwa — Zawieyski, weilte vom 5. bis 14. Mai offiziell in England.

Bis zur Veröffentlichung des Zwischenfalls von Swerdlowsk am 5. Mai durfte der Optimismus der polnischen Presse — die wir als wichtige und typische Quelle heranziehen — nicht überraschen. Sie stieß ins gleiche Horn wie die Sowjetzeitungen und wie die “anderen volksdemokratischen Blätter. Erstaunlicher aber ist ein Pariser Korrespondentenbericht vom 10. Mai: „Der Luftzwischenfall wird nicht in entscheidender Weise auf den Verlauf der Gipfelkonferenz einwirken.“ Am 15. Mai aber schloß ein inspirierter Leitartikel des angesehensten polnischen Intelligenzorgans „Zycie Warszawy“, der die „Aussichten des Gipfeltreffens“ behandelte, mit den Worten: „Man darf noch weiterhin an den persönlichen guten Willen der einander begegnenden Staatsmänner glauben, an ihre Vernunft und an ihren Wunsch, der Menschheit die Schrecken eines Krieges zu ersparen. Man kann auch, trotz allem, darauf vertrauen, daß der neue Begriff .Geist des Elysee-Palasts' Sinnbild einer wesentlichen Annäherung zwischen den Völkern werden wird.“ Hierauf eine schroffe Zäsur. Erst am 18. Mai meldeten die inzwischen tines schlechteren belehrten Pariser Vertreter der polnischen Presse, man habe seit wenigstens £wei Wochen ein Scheitern der Konferenz erwartet.

Das einzige, wodurch sich die Warschauer Stimmen von denen anderer Satelliten unterschieden, war der Eifer, mit der Macmillan und de Gaulle gelobt und als Friedenstauben dargestllt wurden, die vergebens getrachtet hätten, Eisenhower von der „Torpedierung des Gipfeltreffens“ abzubringen. Von da an funktionierte das einen Augenblick lang desorientierte Werkzeug, die gleichgeschaltete Presse samt Rundfunk, wieder tadellos. Chruschtschows Standpunkt, seine Dolchstoßtheorie, sein gesamtes Auftreten in Paris wurden gepriesen und als Meisterstück staatsmännischer Weisheit wie als Gebot politischer Ethik gefeiert. „Wir teilen die Empörung unserer sowjetischen Freunde und solidarisieren uns mit ihrem Standpunkt.“ Dieser Satz wurde allerdings in eine Fülle anderer Phrasen eingehüllt, die den perplexen polnischen Leser beruhigen und dessen tiefer Friedenssehnsucht wie seiner Sorge vor künftigen Verwicklungen Rechnung tragen sollen „Wir werden gemeinsam mit ihnen (den ebengenannten Freunden) alles daransetzen, um die Sache der Verwirklichung des Gedankens friedlicher Koexistenz zu fördern. Polen wird fernerhin eine Politik betreiben, die auf Entspannung zwischen den Nationen abzielt, dabei aber eine verständliche Wachsamkeit gegenüber den Vergewaltigern des Völkerrechts und den Verehrern des kalten Krieges pflegt.“

„SCHLIMMER ALS EIN VERBRECHEN“

Mit diesen nur scheinbar auf die USA zielenden Worten sucht man in Warschau freilich den Schwarzen Peter dem einzig gefürchteten Erzfeind zuzuspielen: der Bonner Bundesrepublik. Darin begegnen sich Gomulka und die Seinen mit Tito und mit den Ungarn um Kädär, die allesamt gar zu gerne einen Bruch zwischen Washington und Moskau vermieden sähen und die nach den ersten Anzeichen, daß der Theaterdonner von Paris bereits aus Pankow und schon gar aus dem Kreml schwächer erklang, Hoffnung schöpfen und in der Presse bereits von neuer Entspannung und von einer künftigen Gipfelkonferenz sprechen.

Polen und Ungarn haben zwar in den Schimpfchor gegen die Yankees mit voller Stimmkraft mitgeschrieen und nur leiser, einzig dem Hellhörigen vernehmbar, ein zweites milderes Nebenmotiv mitklingen lassen. Eines darf indessen nicht verschwiegen werden: Der Zorn gegen die ungeschickten Urheber des Zwischenfalls von Swerdlowsk ist in Polen wie in Ungarn vielleicht gerade bei jenen zahlreichen Intellektuellen und Angehörigen der früheren Ober- und Mittel-' schichten besonders heftig, die es den in Frage kommenden amerikanischen Stellen nicht verzeihen, den Russen prächtige Propagandamittel geliefert zu haben.

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