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Gefangene auf dem Gipfel

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Zum erstenmal seit 140 Jahren ist in den letzten Wochen die Fassade des Elysee-Palastes zu Paris vom Staub befreit worden: Staub der Jahrhunderte, die in diesem 1718 erbauten Hause Europas große Kriege und deren Ausweitung zu zwei Weltkriegen gesehen haben. Napoleon und Wellington, sein Überwinder. haben hier geweilt.

Unbefreit von ihren Vergangenheiten werden als Gäste de Gaulies am 16. Mai in den eleganten Salons mit den Möbeln im Stile des sechzehnten Ludwig, und den Gobelins des 18. Jahrhunderts die Herren Eisenhower, Mac Millan( und Chruschtschow zur ersten Morgen Sitzung der Gipfelkonferenz Platz nehmen. Die Nachmittagsitzungen finden jeweils am Quai d'Orsay im französischen Außenministerium statt; im Salon d'Orloge, einem in Elfenbein und Gold strahlenden, von wunderschönen Kristallustern erhellten Saal, an einem grünbespannten runden Konferenztisch, der für die vier Regierungschefs, ihre Außenminister und je zwei Berater Platz hat. Neben diesen sechzehn Personen nehmen am Konferenztisch die Angst und das Mißtrauen der ganzen Wel' Platz.

Noch der Barock liebte es, etwa die Hoffnung oder einen teuflischen Schrecken als allegorische Figur an den blaugoldenen Himmel seiner Prunksäle zu malen. Die Gegenwart verzichtet auf die Allegorie, sie spricht in Fakten. Der Himmel über Paris, der Himmel in Ost und West ist von den Kondensstreifen der Düsenjäger und Düsenbomber und von den brandigen Spuren der Raketen gezeichnet.

Am Himmel des 16. Mai ist eine Spur dieses 1. Mai zudem eingezeichnet, an dem es sowjetischen Soldaten gelungen ist, mit einem Raketenschuß ein amerikanisches Erkundungsflugzeug über sowjetischer Erde abzuschießen.

Mit diesem Ereignis gelangen wir, quer durch die wohlverschlossenen Türen ins Zentrum der Verhandlungen der Gefangenen dieses 16. Mai: sie sind Gefangene eines politischen Denkens das sich von den blutigen Erfahrungen zweier Weltkriege speist, und sie sind Gefangene der militärischen Stäbe ihrer Länder, die sich wie der auf die geballte Macht der Ängste von Millionen Massenmenschen stützen können. Die i prominentesten, gewichtigsten, am schwersten lergestalt belasteten Gefangenen sind offensichtlich Eisenhower und Chruschtschow. Harold Stassen, der langjährige amerikanische Abrüstungsbeauftragte, äußerte zu dem „besonderen Vorkommnis“ dieses 1. Mai die Meinung, daß das ominöse US-Flugzeug „von einigen Offizieren“ ohne Wissen Eisenhowers in die Sowjetunion entsandt worden sei, die Gipfelkonferenz zu torpedieren. Tatsache ist: gewisse US-Stäbe kümmern sich einen Deut um die Weltpolitik des Präsidenten, haben dies auch mehrfach öffentlich geäußert; sie kennen nur eine Wirklichkeit: die der militärischen Entscheidung. Ohne es zu wissen, befinden sich diese Militärs, die da dem Präsidenten einen schweren Schuß vor den Bug schössen, in einer unheiligen Allianz mit den anderen starken Kräften, die eine Abrüstung — das Thema Nr. 1 der Pariser Gipfelkonferenz — und die damit verbundene Entspannung mit allen Mitteln verhindern wollen: die stalinische Parteibürokratie in der UdSSR, einschließlich der zahlreichen inneren Gegner Chruschtschows, die ihm keine internationale Entspannung zur Durchführung seiner innerpolitischen gigantischen Pläne gönnen, dann die gegenwärtige Führung Chinas, die vor der Aufnahme Rotchinas in die UNO auf keinen Fall eine Abmachung Moskau-Washington sehen will, und nicht zuletzt die kommunistischen Führungen einerseits, die rechtsradikalen Machtgruppen anderseits in Ost und West, die ihre Chance, sich zu halten beziehungsweise hochzukommen, mit Recht allein darin sehen, daß der kalte Krieg weitergeht, neu entfacht wird, und das Geschäft der Schrek-kensmache es ihnen erlaubt, ihre Staaten als geschlossene Räume möglichst ohne Fenster oder andere Öffnungen einzurichten.

Was mögen die Gefangenen in Paris ausrichten? Chruschtschow scheint es jedenfalls darauf angelegt zu haben, dem Westen seinen festen Willen klar zu machen, mit beiden deutschen Staaten einen Friedensvertrag abzuschließen, und ihnen dies akzeptabel zu machen. Moskau benützt also die Berlin-Frage, um zunächst sein Deutschland, die DDR, international zur Anerkennung zu bringen. Wie der Westen die Russen von diesem Standpunkt abbringen will, ist nicht ersehbar. Das ist bereits eine große Kalamität des Westens.

Also wird man sich in Paris vertagen, wofür de Gaulle und MacMillan sorgen werden, in der Hoffnung, „kommt Zeit, kommt Rat“, daß daheim einiges in Ordnung kommen wird: wobei Eisenhower an die bevorstehenden Wahlen in den USA denken muß, er kann seine Partei durch Zugeständnisse jetzt kurz vor seinem Abgang nicht vorbelasten. Chruschtschow mag an Peking, Algerien. Berlin und die Bundesrepublik denken, die er wohl weiter unter Beschuß seiner Propaganda halten wird. Die vier Großen werden also abwarten; gefährlich ist diese neue Wartezeit „nur“ für den Frieden, denn in ihr sind bösen Versuchern Tür und Tor zu bösen Versuchen geöffnet; erinnern wir uns dieses ersten Mais . . .

Mit dem Blick auf die Gipfelkonferenz sagte soeben, anläßlich der Weihe von 14 Missionsbischöfen in der Peterskirche, Papst Johannes XXIII.:

„In diesen Wochen ist die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen mit tiefer Sorge ... auf die Worte, die Taten und das Auftreten der höchsten Repräsentanten der großen Nationen gerichtet, von deren Gewissen in großem Maße die Bedingungen, die bei der Entscheidung darüber zusammenwirken, ob in der Welt der Frieden errichtet oder zerstört wird, abhängen.“

Von Rom nach Paris gewandt, enthält dieser Aufruf zur Brüderlichkeit die schwere Frage: können Gefangene Brüder werden? Die innere Unfreiheit in der Brust der Staatsführer der Weltmächte von heute ist, neben ihren festen Bindungen an die Pressure-groups und großen Interessenverbände ihrer Nationen, das größte Hindernis für Paris, für die Abrüstung für den Frieden in dieser Welt.

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