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Slowaken - keine Anhängsel

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Wo sind die Zeiten, da eine slowakische Zeitung nach der Hinrichtung des vormaligen slowakischen Staatspräsidenten Msgr. Tiso schrieb: „In Prag erinnert man sich der Slowaken nur dann, wenn es gilt, einen von ihnen hinzurichten.” 1918, als der eine Mitbegründer der Tschechoslowakei, General Stefanik, unmittelbar vor der Landung in Preßburg unter mehr als mysteriösen Umständen abgeschossen wurde, war das Verhältnis von Tschechen und Slowaken noch kühler, und die Slowaken fühlten sich als von den Tschechen vergewaltigt, zumindest bevormundet.

Seit 1968 sind nun die Männer Nummer eins und Nummer zwei in jeder kommunistischen Hierarchie, KP-Sekretär und Ministerpräsident, Slowaken, nämlich Alexander Dub- ček (47) und Jozef hėnart (44), und wenn auch früher oder später Lėn- art aus optischen Gründen wird weichen müssen — diese heutige Situation allein ist bezeichnend und illustriert deutlich den Wandel, der innerhalb von drei Jahrzehnten erfolgte.

Tiefer Graben

Die Slowaken kamen 1918, zum Unterschied von den Tschechen, aus Zisleithanien, aus der ungarischen Reichshälfte, haben also eine wesentlich andere geschichtliche Entwicklung mitgemacht. Die Schwierigkeit der Eingliederung ist vor allem auf dem Gebiet des Rechtes sichtbar geworden, wo durch 20 Jahre ein sogenanntes „Unifizierungsministerium” eine Rechtsangleichung durchführen sollte, ohne dies bis zum Ende der Ersten Republik bewältigen zu können.

Aber an den tatsächlichen Schwierigkeiten und Sorgen der Slowaken in den ersten Jahren nach Begründung der Republik, also nach 1918, waren die Tschechen nur beschränkt schuld. Daß die Slowaken in der Stunde der Selbständigkeit praktisch ohne Intelligenz dastanden — kaum 100 Juristen, ein paar Ärzte, kaum Techniker, am ehesten noch katholische und evangelische Pfarrer —, war ein bitteres Erbe aus der Ungarnzeit. Und als dann tschechische Beamte, Richter und Techniker, oft in bester Absicht, oft auch mit dem Gedanken, sich so rasch als möglich zu bereichern, in die Slowakei kamen und hier meist ein Menschenalter blieben, hatten die Slowaken den Eindruck, daß die eine Besatzungsmacht, die der Ungarn, von einer anderen, die der Tschechen, abgelöst worden sei. Ungeschickte Prager zentralistische Tendenzen in den Ministerien, aber auch in den einzelnen Parteien vertieften den Graben.

Gewiß fehlten in den einzelnen Prager Ministerien nie Slowaken; aber einmal waren es meist die unbedeutendsten Ministerien, mit denen man sie bedachte (ähnlich wie später die der deutschen aktivisti- schen Parteien); dann waren es bei einem starken Wechsel auf tschechischer Seite durch 20 Jahre fast immer dieselben Männer (Srobar, Hodža, Derer), auch wieder ein Zeichen dafür, wie dürftig trotz zahlreicher Schul- und Hochschulgrün- dungen noch immer die slowakische Intelligenzschichte war.

Zu spät für Hodža

Den ersten Durchbruch erzielte ein Slowake und mit ihm die Slowaken in ihrer Gesamtheit, als von seiten der tschechoslowakischen Agrarpartei Milan Hodža 1935 Prager Regierungschef wurde. Hodža war außerordentlich intelligent und ideenreich (er kam übrigens aus dem Kreis kenntnisreicher Männer, die sich noch im alten Österreich um den

Thronfolger Franz Ferdinand geschart hatten), aber er kam zu spät auf den Posten; die Lage war schon unrettbar verfahren, der Donauraum, dem sein besonderes Interesse galt, schon Spielball fremder Mächte. Die Stunde war gegen ihn. Er starb während des zweiten Weltkrieges in der Emigration in Amerika. Immerhin war er es, der die Tradition slowakischer Regierungschefs eröffnete, eine Tradition, die später die Kommunisten, wenn auch unter etwas geänderten Vorzeichen, übernahmen.

Seit 1953, also seit vollen 15 Jahren, waren dann Slowaken Regierungsvorsitzende, erst Viliam Siroky (1953 bis 1963) — angeblich ein Slowake ungarischer Abstammung — und dann seit 1963 Jozef Lėnart. Da die Partei (fast) immer recht hat, irgend jemand aber Unrecht haben mußte, die Parteilinie nicht einhielt und als Sündenbock gebraucht wurde, so war es bis Ende 1967 traditionsgemäß der Regierungsvorsitzende.

Damit war auf der einen Seite bei einer Art Proporz-Dualismus den Slowaken der zweite Platz in der Rangordnung Vorbehalten, gleichzeitig waren sie aber auch die präsumtiven Prügelknaben. Nicht zuletzt erlebte dies Siroky, dem vor fünf Jahren bei seinem Abgang, nachdem er durch volle zehn Jahre Regierungschef der Tschechoslowakei gewesen war, ausdrücklich und offiziell seine Unfähigkeit bescheinigt wurde.

Auch dieser Proporz-Dualismus ist durchbrochen und die maßgebliche Rolle, die die Slowaken heute in der Partei- und Staatsspitze stellen, ist nur Abklatsch ihrer neuen, gestärkten Stellung, aber auch der Tatsache, daß sie — sehr mm Unterschied zum Jahre 1918 — über eine bemerkenswerte Intelligenzschicht verfügen.

An dieser Tatsache haben natürlieh die ersten 20 Jahre, die der Ersten Tschechoslowakei, wesentlich Anteil. Dann waren im Protektorat alle tschechischen Hochschulen geschlossen, während die Slowaken, natürlich auch behindert, aber doch im wesentlichen weiterstudieren konnten. Und die Ausweitung des Hochschulstudiums und der Ausbildungsstätten nach 1945 gab den Slowaken weitere Chancen.

Diese so günstige Entwicklung konnte nicht einmal die dreifache Liquidierung der slowakischen Intelligenzschicht entscheidend behindern. 1945 war die katholische Füh- rumgsschicht der Slowakei liquidiert worden, 1948 ging es der evangelischen und liberalen kaum besser, und ein weiteres Jahrzehnt später waren die Hauptopfer des Kampfes gegen einen „bourgeoisen Nationalismus” die slowakischen Kommunisten, vor allem der frühere Außenminister Clementis.

Das Kaschauer Programm

Aber die Ausbildung einer breiteren Intelligenzschicht war nur ein Faktor für das Erstarken der Slowaken; es gab eine ganze Reihe weiterer Komponenten. Einmal war es die wesentlich günstigere und auch für die Praxis keineswegs unbedeutende staatsrechtliche Stellung nach 1945. Das Kaschauer Programm, an sich nicht mehr als das Regie- rungsprogramm der ersten tschechoslowakischen Nachkriegsregierung vom Jahre 1945, in der. Praxis aber doch wesentlich mehr und mitbestimmend für die weitere Entwicklung, sah für die Slowaken eine Art Landtag und in der Körperschaft der „Beauftragten” eine Art Landesregierung vor, mit an sich beschränkten Aufgabengebieten und einer an sich dürftigen Autonomie — alles in allem blieb es doch aber eine gewisse einseitige Bevorzugung der Slowaken, da ähnliche Maßnahmen weder für Böhmen noch für Mähren getroffen wurden. Zweifellos war diese Maßnahme eine Nachwirkung der an sich viel geschmähten slowakischen Republik der Jahre 1939 bis 1945 und sollte den Slowaken ein Eingewöhnen in die wiedererrichtete Republik erleichtern. Es darf allerdings auch nicht verheimlicht werden, daß die KPTsch den „Tschecho- slowakismus” eines Beneš oder Srobar nie mitgemacht hat wenn sie auch innerhalb des Parteigefüges (selbständige slowakische KP nach 1945, dann wieder einheitliche KPTsch) opportunistischen Erwägungen freien Lauf gelassen hat.

Neben dieser staatsrechtlichen Sonderstellung seit 1945 war es vor allem die Tatsache, daß die Geburtenfreudigkeit in der Slowakei gegenüber der sichtbaren Stagnation in den böhmischen Ländern den Größenabstand zwischen Tschechen und Slowaken fast Jahr für Jahr verminderte. Auch der Wegfall der ‘ deutschen Minderheit stärkte rein optisch das Gewicht der Slowaken. Schließlich war es die nach 1945, aber auch nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 stark forcierte Industrialisierung der Slowakei, die das Gewicht dieses Landes stärkte. Ursprünglich waren es strategische Erwägungen, die dazu führten, Industrieanlagen aus den Westgebieten nach dem Osten zu verlagern oder neue Industrien in der Slowakei zu errichten. Dann war es der Kräftemangel; man mußte bei Betriebsneugründungen einfach dem noch vorhandenen Arbeitskräftepotential nachlaufen und das war eben in der Slowakei noch stärker vorhanden, als in den böhmisch-mährischen Gebieten.

Nach dem zweiten Glas Wein — Ungar

All dies führte nicht nur zu einer Stärkung der Slowaken und der Slowakei; es ließ auch die unterschiedlichen Charakterzüge von Tschechen und Slowaken deutlicher werden: den stark intellektuellen Tschechen, die sich ihrer Kleinheit und exponierten Lage bewußt sind, geht es vor allem darum, zu überleben. Sie wollen nicht — und können es sich auch kaum leisten — große Blutopfer zu bringen, weder für eigene Interessen und erst recht nicht für andere. Es führt zur Vorsicht, zu einem übervorsichtigen Verhalten- Revolutionen können nur dann realisiert werden, wenn es eine Minute vor zwölf ist.

Den Slowaken hat die neue Grenze zur Sowjetunion (nach Abtretung der Karpaten-Ukraine 1945) wenig anhaben können. Sie sind Draufgänger, oft unüberlegt, ebensooft aber auch erfolgreich. Weniger intellektuell als die Tschechen, haben sie trotz allem ein keineswegs geringes Reservoir schöpferischer Kräfte. Unheimlich bescheiden und an ein karges Leben gewohnt, nehmen sie allerdings oft, wenn sich das Blatt wendet, Allüren einstiger ungarischer Magnaten an, und zu Recht sagt man, daß nach dem zweiten Glas Wein, das der Slowake trinkt, der Ungar hervorkommt Dann spielt er gern den Herrn, ist weniger sozial als der Tscheche. Alles in allem haben vor allem die Slowaken in den letzten Jahren der Tschechoslowakei die entscheidenden Impulse gegeben, vor allem auch innerhalb der KPTsch und es ist keinesfalls Zufall, daß ein Slowake heute auch an der Spitze der Partei steht Alle auch damit verbundenen Spannungen dürfen nicht zur Meinung führen, daß das tschechischslowakische Problem heute brisanter sei, als früher. Ganz im Gegenteil hat die selbstbewußtere Haltung der Slowaken, die biologische und wirtschaftliche Stärkung der Slowakei, eher dazu beigetragen, die Spannungen zu vermindern, das früher starke Sozialgefälle zwischen den böhmischmährischen Ländern und der Slowakei, das natürlich noch besteht zu verkleinern.

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