Die Tschechoslowakei, vor allem die böhmischen Länder, werden wieder unruhig. Trotz dreier legaler Regierungen hat das Volk das Gefühl, von einem unsichtbaren Schattenkabinett regiert zu werden, das der Handlanger eines Kolosses ist, der bedächtig, aber um so sicherer, ein Stück nach dem anderen des eigenen Lebens und der ohnedies kargen Freiheit abwürgt. Wie eine Fackel die Dunkelheit erhellt, so sollte der Flammentod des jungen Studenten Jan Palach auf dem Wenzelsplatz in Prag die Situation erhellen, in der sich das tschechische Volk befindet, und ein Fanal für die Begierenden und auch für das Volk sein, um sich der Situation bewußt zu werden. Palach soll ein Plakat in der Hand gehalten haben mit der Aufschrift: Gegen den kommunistischen Despotismus. In seinem Abschiedsbrief richtete der Verstorbene seinen Protest nicht nur gegen die sowjetische Unterdrückungsmacht, sondern forderte die eigenen Führer auf, zur Rettung dessen, was den Tschechen und Slowaken an Freiheit noch geblieben ist, energischer aufzutreten. Sowohl die jugendlichen Kommilitonen wie auch die Träger des Regimes nahmen den Flammentod sehr ernst und taten ihn nicht als die Tat eines Geistesgestörten ab. Doch wie sollten die, die nicht, aus dem düsteren Drama ausgetreten sind, weiter handeln? Die Jugend, der es am 21. August verwehrt war, gegen den Landesfeind zu kämpfen, neigt zu großem Heroismus. Die reformkommunistischen Oberen, die auf des Messers Schneide zwischen Vertrauensschwund und zusätzlicher sowjetischer Intervention lavieren müssen, ersuchen in ebenso flammenden Aufrufen die Jugend, für das Land zu leben und nicht zu sterben.
Als der prominente slowakische Kommunist Evžen Löbl in Wien in deutscher Sprache ein Buch herausgab, das interessante Einblicke in die hohe Zeit des Stalinismus der Tschechoslowakei, den Slänsky-Prozeß gewährte, gab er ihm den sicher journalistisch wirkungsvollen Titel „Die Revolution rehabilitiert ihre Kinder”.Im kalten Prager Herbst des Jahres 1968 ist auch die in die Wege geleitete Rehabilitierung steckengeblieben — wie so oft übrigens im Verlauf der letzten Jahre.Die stalinistische Ära der Tschechoslowakei setzte sofort in jenem Februar 1948, mit dem Beginn des kommunistischen
So wie jeder Mensch sind auch ganze Völker einem ständigen Wandel unterworfen. Begabungen kommen, Begabungen versinken; Berufsgruppen werden gefördert, andere vernachlässigt. All das sieht man oft im Ablauf von Jahrhunderten oder Jahrzehnten. In unserer schnellebigen Zeit glaubt man oft die Entwicklung eines Volkes wie in einem Film gerafft zu sehen.Viele Eigenschaften, die man einst dem Österreicher oder Franzosen als besonders spezifisch zuschrieb, sind längst unaktuell oder zumindest wenig bezeichnend; kaum mehr wird von den Deutschen als „Volk der Dichter und Denker“ gesprochen.
50 Jahre nach Begründung der Tschechoslowakei oder der „Ersten Republik hat eine Verfassungsänderung Österreichs nördlichen Nachbarn in eine Föderation zweier völlig souveräner Teilstaaten umgewandelt. An sich ist der Föderalismus für die Tschechen nichts Neues, denn schon vor 1918 war ihr Kampf um das böhmische Staatsrecht ein Teilsektor des Bemühens um einen föderativen Staatsausbau Österreichs. Dann aber folgten die Jahre der Zwischenkriegszeit, in der der Zentralismus dominierte, schließlich die Zeit nach 1945 mit unterschiedlichen, aber auch überwiegend zentralistischen
Die Liberalisierungsmafjnahnien im Frühjahr 1968 in der Tschechoslowakei konnten vom ersten Tag an nicht eng auf innerparteiliche Probleme abgegrenzt werden. Im kirchlichen Bereich brachten sie dort eine besonders starke Reaktion, wo früher die schärfsfen und radikalsten Maßnahmen ergriffen worden waren. So zeigte nach 18jährigem Katakombendasein die griechisch-katholische Kirche, die man auch die mit Rom unierte (vereinte) oder die katholische Kirche des byzantinischen Ritus’ bezeichnete, unerwartet starke und kräftige Lebenszeichen.
Das Tagebuch des tschechisch-russischen Verhältnisses des ersten Halbjahres 1968Der Panslawismus der Tschechen zeigte eigentlich nur im alten Österreich ein wenig Leben. Damals war es auch weniger die Anziehungskraft Moskaus oder Belgrads — die Tschechen im alten Österreich waren zu emanzipiert, um völlig messiani- schen Ideen zu verfallen oder gar an Minderwertigkeitskomplexen zu leiden —, sondern meist mancherlei Fehler verschiedener anderer Seiten.Vor allem Palacky war es damals, der Ideen von Rousseau und Herder geschickt wedterentwickelte. Bald 6ah man in der Wiedererweckung der
Im tschechischen Umbruch des Jahres 1968, den man nach einem ersten Überblick eher als Liberalisierung -, denn als Demokrafisierungsprozefj (in westlicher Betrachtungsweise) bezeichnen kann, wird man das Verhallen zur Katholischen Kirche als den vielleicht bemerkenswertesten Test betrachten dürfen. In den bescheidenen Liberalisierungswellen der letzten Jahre, die insgesamt nie richtig den Namen „Enfstalinisierung" verdient haben, hat die Kirche immer so etwas wie ein „Schlußlicht" dargestellt. Von den verwaisten Bischofssitzen konnte lediglich ein einziger, der von Prag, gut, aber nur provisorisch besetzt werden; ein Großteil der inhaftierten Bischöfe und Priester ist wohl im Verlauf dec letzten Jahre — noch unter Novotny — freigelassen worden; dabei dürfen zwei arge Schönheitsfehler nicht übersehen werden: daß sie — im Gegensatz etwa zu den seinerzeit abgeurteilten Kommunisten — nie rehabilitiert, sondern ausschließlich begnadigt wurden und daß sie ihren Beruf nicht mehr ausüben durften, sondern In fremden Berufen arbeiten oder in einem Altersheim zurückgezogen leben mußten. Nur in Einzelfällen durften Bischöfe wenigstens seelsorglich wirken.
Die Großveränderungen in Prag sind mit der Regierungsumbildung ijn wesentlichen abgeschlossen. Die sicher folgenden Austausche in der mittleren und unteren Ebene werden für den Alltag der Bevölkerung oft noch wichtiger sein, sie werden aber im Ausland keine Wellen mehr schlagen.Immerhin hat Prag innerhalb von rund drei Monaten alle drei Spitzenpositionen umbesetzt: Erster ZK- Sekretär und damit Parteichef wurde am 8. Jänner nach Novotny Alexander Dubček (47); am Abend des 4. April wurde nach der Umgestaltung des ZK der Partei Oldfich Cernik (45) als neuer Ministerpräsident nominiert;
Die etwas turbulenten Geschehnisse der letzten Wochen in der Tschechoslowakei zeigen bei aller Unübersichtlichkeit eines deutlich auf: daß von einer Entstalinisierung vermutlich erst jetzt gesprochen werden kann.Was damals vor sechs Jahren geschah, war dürftig genug: die monatelange Diskussion, was mit dem Stalin-Denkmal auf der Letna, dem größten der Welt, geschehen solle; die nach Moskauer Beispiel erfolgte Umbettung des ersten kommunistischen StaatspräsidentenGottwald, wobei — im Gegensatz zum Kreml — die gesamte Regierung bei der neuerlichen Beisetzung Gottwalds anwesend war; die
Wo sind die Zeiten, da eine slowakische Zeitung nach der Hinrichtung des vormaligen slowakischen Staatspräsidenten Msgr. Tiso schrieb: „In Prag erinnert man sich der Slowaken nur dann, wenn es gilt, einen von ihnen hinzurichten.” 1918, als der eine Mitbegründer der Tschechoslowakei, General Stefanik, unmittelbar vor der Landung in Preßburg unter mehr als mysteriösen Umständen abgeschossen wurde, war das Verhältnis von Tschechen und Slowaken noch kühler, und die Slowaken fühlten sich als von den Tschechen vergewaltigt, zumindest bevormundet.Seit 1968 sind nun die Männer Nummer eins
Im März 1948 nahm die tschechoslowakische Nationalversammlung ein Gesetz „Über die neue Bodenreform“ an; 433.000 Hektar wurden an kleinere und mittlere Bauern verteilt. Aber das waren nur „Zuckerln“ für die erste Stunde, eine taktische Über-gangslösung für das erste Jahr nach der kommunistischen Machtergreifung, denn schon im folgenden Jahr begann auf Grund der Beschlüsse des IX. Parteitages der KPTsch der „Übergang zur ger^ssenschaftlichen Sozialistischen Landwirtschaft“, womit man den Übergang zum Kolchossystem nach sowjetischem Vorbild bezeichnete und tarnte.Mit dieser