Slowakisches Trauma Tiso

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Auch 60 Jahre nach seiner Hinrichtung scheidet der Prälat und Präsident 1939-45 die Geister.

Mit einem Schatten leben zu müssen, ist mühsam, und umso mühsamer ist es für jemanden, der sich gerade erst seinen Platz an der Sonne erkämpft hat. Dies gilt auch für Völker wie die Slowaken, die ihre erste Unabhängigkeit in der Neuzeit nicht dem Selbstbestimmungsrecht verdankten, sondern dem Diktat Adolf Hitlers.

Ein gutes Jahrtausend hatten die Slowaken im Königreich Ungarn ohne jegliche territoriale Eigenständigkeit gelebt, und während zumal die Tschechen im 19. Jahrhundert immer größere Rechte erlangten, wurde für sie die Luft immer dünner: 1875 wurden die letzten slowakischen Gymnasien geschlossen, seit 1898 durften Ortsnamen offiziell nur mehr in ihrer ungarischen Form verwendet werden, und selbst slowakische Zeitschriften dienten nicht selten der Madjarisierung.

In diesem Klima wuchs Jozef Tiso, der Präsident des "Slowakischen Staats" von 1939 bis 1945, heran.

Student in Wien

Tiso (auszusprechen mit kurzem I und scharfem S) wurde am 13. Oktober 1887 in der Nordslowakei geboren. Sein Theologiestudium absolvierte er in Wien, wo er im ungarischen Priesterseminar Pazmaneum wohnte. Zu seinen Lehrern zählten der spätere Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel sowie der spätere Wiener Erzbischof Kardinal Theodor Innitzer, vor allem aber der Moraltheologe Prälat Franz Martin Schindler, ein Wegbereiter der Christlichen Soziallehre und Theoretiker der Christlichsozialen Partei Karl Luegers.

Eine Ansichtskarte, die Tiso an Freunde im Priesterseminar von Nitra sandte und die sie in den Augen der Vorgesetzten zu antiungarischen Ressentiments aufstachelte, hätte ihn beinahe die Weihe gekostet. Tatsächlich sollte der junge Kaplan, nach Oberungarn zurückgekehrt, sofort ein zielstrebiges national-slowakisches Engagement entfalten. Er betätigte sich im Bauernbund, betrieb die Gründung einer Bank und erteilte Religionsunterricht auf Slowakisch, was seit 1907 verboten war.

Mit Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik 1918 trat er auch ins politische Leben ein und war einer der Mitbegründer der von Prälat Andrej Hlinka geleiteten Slowakischen Volkspartei.

Da die Slowaken aber über keinen eigenen Adel und auch kaum über ein eigenes Bürgertum verfügten, fiel den Geistlichen - nicht nur den katholischen - seit dem 19. Jahrhundert eine Führungsrolle zu.

Minister in Prag

An die Stelle der Abwehr der Madjarisierung trat jetzt jene der Tschechisierung. Diese verlief zwar ungleich subtiler, indem etwa die slowakische Rechtschreibung an die tschechische angeglichen werden sollte. Doch die zahlreichen Lehrer, die jetzt aus den böhmischen Ländern ins Land zu Füßen der Tatra einströmten, erregten bei den überwiegend katholischen Slowaken auch wegen ihrer laizistisch-hussitischen Ausrichtung Anstoß.

Antitschechische Kritik brachte denn auch Jozef Tiso im Jahre 1923 zwei Monate Gefängnis ein und machte ihn als Hochschulprofessor und Bischofssekretär untragbar. Von nun an bis 1945 war er, auch als Staatspräsident, Pfarrer in dem Landstädtchen Bánovce, und noch heute wird in der Slowakei von Kryptokommunisten vor der Wiederkehr der "Pfarrerrepublik" gewarnt.

Zunächst war die Politik der katholischen Hlinka-Volkspartei auf die Erringung der zugesagten Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei fokussiert; 1927 bis 1929 amtierte Tiso sogar als Gesundheitsminister der Zentralregierung.

Doch in den dreißiger Jahren verschärfte sich der Ton und Hlinka sprach davon, man werde "auf die slowakische Eigenständigkeit auch nicht um den Preis der Republik verzichten".

Das Wort wahr zu machen sollte nach dem Tod des Mentors dessen Stellvertreter Jozef Tiso zufallen. Nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 wurde noch innerhalb der Rumpf-Tschechoslowakei eine autonome Republik ausgerufen und Tiso zu deren Ministerpräsident gewählt. "Freie Wahlen" brachten der Volkspartei 97,5 Prozent der Stimmen, und als Tiso am 13. März 1939 nach Berlin zitiert wurde, wurde auch den Letzten klar, wer das Sagen hatte.

Präsident in Pressburg

Der tags darauf in Bratislava proklamierte "Slowakische Staat" bescherte den meisten Slowaken mitten im Weltgewitter in vieler Hinsicht eine Blütezeit. Gegründet wurden unter anderem der Slowakische Rundfunk, das Nationalmuseum und die Nationalbibliothek, Kirchen wurden gebaut und Schulen errichtet. Doch der Preis dafür bestand nun nicht mehr bloß in der Republik, sondern in Menschenopfern: im Kriegseinsatz an der Seite des Dritten Reichs und vor allem in der Auslieferung der Juden, die 67.000 Menschen das Leben kostete.

Und es helfen alle Beteuerungen nichts, der nunmehrige Staatspräsident Tiso habe die Deportationen vorübergehend gestoppt und nicht er, sondern Ministerpräsident Tuka habe sie zu verantworten; auch habe Tiso durch Ausnahmegenehmigungen 5000 Juden gerettet und Juden hätten seinen Verbleib im Amt erbeten. Es kann nicht mildernd angeführt werden, die Juden hätten es mit den Madjaren gehalten und den Anschluss an Ungarn betrieben. Und schon gar nicht kann ins Treffen geführt werden, Tisos Antisemitismus sei nicht rassistisch, sondern religiös und wirtschaftlich motiviert gewesen. Denn mag auch dies stimmen - der Holocaust hat unter dem "Füh-rer" Tiso dennoch stattgefunden. Jozef Tiso in seiner Regierungserklärung vor dem Parlament des "Slowakischen Landes": "Bei der Lösung der Judenfrage wird uns nichts anderes leiten als das Interesse des slowakischen Volkes."

Bei Kriegsende ins Benediktinerstift Kremsmünster und dann ins Kapuzinerkloster Altötting ge-flüchtet, von den Amerikanern schließlich an die wiedererrichtete Tschechoslowakei ausgeliefert, wur-de Tiso in einem Schauprozess in Pressburg zum Tode verurteilt und am 18. April 1947 gehenkt. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Kriegsteilnahme an der Seite Hitler-Deutschlands sowie auf Niederschlagung des Slowakischen Volksaufstands von 1944 und Verfolgung von Regimegegnern.

Kontroversen heute

Wie brisant das Thema Tiso in der Slowakei nach wie vor ist, zeigten zuletzt die Diskussionen um die Tiso-Biografie des Salesianerpaters Milan \0x02C7Durica, die in ein 16 Seiten langes Plädoyer für Tisos Seligsprechung mündet, sowie um die Neubesetzung des Leitungspostens im "Nationalen Gedenkinstitut". Das Vorschlagsrecht dort hatte laut Koalitionsvertrag die Slowakische Nationalpartei, die unter anderem beständig den Christdemokraten vorhält, Tisos Erbe verraten und 1992 gegen die erneuerte Unabhängigkeit gestimmt zu haben. Das Rennen im Gedenkinstitut machte Ivan Petranský, der zuvor in der Akademie der Wissenschaften, im Erzbischöflichen Archiv in Trnava und in der nationalen Kulturinstitution Matica slovenská tätig gewesen war. Die beiden Namen markieren auch jene zwei Generationen, die die Revision des Tiso-Bildes mit dem größten Nachdruck betreiben: vehement wie der aus dem Exil heimgekehrte 81-jährige \0x02C7Durica oder mit differenzierter Sympathie wie der 31-jährige Petranský.

Aufsehen erregten auch katholische Kirchenführer. Denn als Ján Sokol, der Erzbischof von Bratislava-Trnava, in einem Interview zum Jahreswechsel von sich gab, es sei ihm als Kind im Tiso-Staat gut gegangen und er sei überzeugt, der von ihm "sehr geschätzte" Tiso und "die ganze Zeit" werde dereinst "in sehr positivem Licht" beurteilt werden, nahm ihm der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof František Tondra, zwar in seltener Direktheit übel, dass er das heikle Thema wieder aufgegriffen habe, fügte aber hinzu, niemand würde heute mehr von Tiso sprechen, wäre er nicht katholischer Priester gewesen.

Der Schatten der Geschichte, mit dem die Slowaken leben müssen, ist weitaus länger als jener, den die Österreicher mit sich tragen. Umso höher zu werten sind jene Stimmen in der Slowakei, die, bei aller Würdigung von Tisos positiven Absichten, seinen Antisemitismus und seine Blauäugigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus beim Namen nennen und ohne Umschweife bedauern. In sich zu gehen haben aber auch Ungarn, Tschechen und Deutschösterreicher, die mit ihrer Politik die Slowaken direkt oder indirekt in Hitlers Arme getrieben haben.

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