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Freiheit ist unteilbar!

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Zum 60. Jahrestag der Republikgründung in Prag veröffentlichten Pavel Tigrid (Paris), Zden&k Mlynäf (Wien) und Jifi Pelikan (Rom) in Wien eine Erklärung. Sie ist von rund hundert emigrierten tschechischen und slowakischen Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern, Publizisten und Angehörigen anderer Berufe unterschrieben, die sich zu den verschiedensten politischen Richtungen bekennen. Hier der Wortlaut ihres Aufrufs an die Welt:

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Zum 60. Jahrestag der Republikgründung in Prag veröffentlichten Pavel Tigrid (Paris), Zden&k Mlynäf (Wien) und Jifi Pelikan (Rom) in Wien eine Erklärung. Sie ist von rund hundert emigrierten tschechischen und slowakischen Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern, Publizisten und Angehörigen anderer Berufe unterschrieben, die sich zu den verschiedensten politischen Richtungen bekennen. Hier der Wortlaut ihres Aufrufs an die Welt:

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Vor sechzig Jahren, am 28. Oktober 1918, entstand im Herzen Europas die unabhängige und eigenberechtigte Tschechoslowakische Republik. Darin gipfelte die Hunderte von Jahren währende Bestrebung der Tschechen und Slowaken um einen selbständigen Staat, die unzertrennlich mit den Namen von T. G. Masaryk, M. Rastislav Stefänik und vieler anderer Repräsentanten der tschechischen und der slowakischen Politik und Kultur verbunden war.

Der junge Staat mußte vom Anfang an eine Reihe von Schwierigkeiten überwinden, ernste soziale und nationale Probleme lösen, und in den dreißiger Jahren mußte er dann darüber hinaus dem Druck des Faschismus aus dem benachbarten Deutschland die Stirn bieten. Trotzdem blieb er jedoch eine parlamentarische Demokratie, die gegen das Ende der dreißiger Jahre die einzige in Mittel und Südosteuropa war: Die Tschechen und die Slowaken erwiesen, daß sie ihre nationalen Schicksale und Interessen mit der demokratischen europäischen Tradition verbinden.

Der Wille des tschechoslowakischen Volkes zur Freiheit, Demokratie und staatlichen Unabhängigkeit wurde jedoch nicht weniger als dreimal gebrochen: 1938 durch das sogenannte Münchener Abkommen, welches zum Zerfall des Staates und zu seiner Okkupation durch das Hitler-Deutschland führte; 1948, als die Kommunistische Partei ihre totalitäre Diktatur errichtete, ihre Macht gegen den Willen des Volkes und gegen seine demokratischen Traditionen mißbrauchte und die Tschechoslowakei in die Position eines Vasallen der Sowjetunion brachte; 1968, als die sowjetische Großmacht diese

Position ausnutzte und durch militärische Intervention den Versuch um die Liberalisierung des autoritativen Regimes vernichtete. Heute, im sechzigsten Jahr ihres

Bestandes, ist die Tschechoslowakische Republik weder ein unabhängiger noch ein demokratischer Staat. Siejst das am meisten erniedrigte Satellitenland in dem sowjetischen Machtblock. Mit der äußeren Unfreiheit geht die innere Unterdrückung, die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte, eine nie dagewesene politische und kulturelle Repression Hand in Hand.

Wir, die wir in den Westen infolge der einen oder der anderen von den drei genannten Katastrophen gekommen sind, erinnern dringend die öffentliche Meinung der Welt an

diese tragische Lage, in der gegen ihren Willen fünfzehn Millionen von Leuten zu leben gezwungen sind. Dieser Zustand ist um so tragischer, als zwei Völker mit einer Jahrhunderte alten zivilisatorischen, kulturellen und politischen demokratischen Tradition mit Gewalt von dieser Tradition in einer Zeit getrennt wurden, in der die letzten unfreien Länder aus den Fesseln des Kolonialismus geraten.

Die Unterdrückung der staatlichen Unabhängigkeit und der demokratischen Tradition in der Tschechoslowakei bedeutete in der Geschichte dieses Jahrhunderts immer auch eine' Gefahr für die demokratischen Kräfte in ganz Europa. Wir glauben deshalb, daß auch heute der Kampf um die Demokratie und die Souveränität der Tschechoslowakei von den Interessen der Demokratie im gesamten Europa nicht zu trennen ist.

Wir wissen, daß die Welt die Rechte und die Unabhängigkeit nur jener Völker anerkennt, die um sie kämpfen und nicht zögern, in diesem Kampf ihre Stimme zu erheben. So erlangten auch die Tschechen und die Slowaken ihre Unabhängigkeit nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch später offenbarten sie bei jeder, auch nur etwas günstigen Gelegenheit - zuletzt während des Prager Frühlings 1968 -ihre Sehnsucht, über das Leben in dem eigenen Staate eigenberechtigt zu entscheiden.

Die ablehnende Haltung zur sowjetischen Okkupation sowie die Bestrebung um die Respektierung bürgerlicher Rechte, repräsentiert durch die Bewegung der „Charta 77“, gewinnen auch heute den Bürgern der Tschechoslowakei Sympathien und Verständnis.

Wir, die wir frei sprechen dürfen, wenden uns an die öffentliche Meinung in der Welt, an die Weltorganisationen und Vereinigungen, die sich zur Allgemeirien Deklaration der Menschenrechte der UNO bekennen, sowie an alle demokratischen Regierungen mit dem Aufruf, mit allen Mitteln die Bestrebung des tschechoslowakischen Volkes um die Erneuerung der staatlichen und nationalen Unabhängigkeit so zu unterstützen, damit dieses Volk selbst über sein Schicksal entscheiden kann und damit die Tschechoslowakische Republik wiederum zu einem gleichberechtigten Mitglied der Gemeinschaft freier Völker werde.

Dies alles in dem Bewußtsein, daß die Freiheit - ähnlich wie der Friede -unteilbar ist.

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