6608966-1954_39_01.jpg
Digital In Arbeit

Wir bauen auf!

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht wenige der großen Begebenheiten des öffentlichen Lebens der letzten sechzig Jahre sind mit dem Namen der Wiener Sofiensäle verknüpft. Hier stand einst Lueger in der stürmischen Zeit der aufstehenden „Vereinigten Christen" im Gefecht; hier hielten die Christlichsozialen wiederholt ihre Parteitage ab; hier entsprang vor 50 Jahren die große österreichische Volksbewegung, die dem christlichen Volke des alten Reiches eine moderne Presse im Kampfe für seine Rechte gab; hier sammelten sich in der Zusammenbruchszeit nach dem ersten Weltkrieg die Verteidiger der Ordnung und der Freiheit zu entschlossener Abwehr gegen den Terror gesetzloser .Umstürzler. Diesen zeitgeschichtlich denkwürdigen Veranstaltungen darf die inhaltsschwere Kontrollversammlung angereiht werden, zu der letzter Tage die Oesterrei- chische Volkspartei hier die Spitzen ihrer politischen Organisation zusammenrief. Es tat sich viel und an große Adressen Gerichtetes auf diesem Parteitage der Volkspartei, der ersten politischen Kraft und Verantwortungsträgerin unseres Staates.

Der Grundriß des von dem Bundesparteiobmann Raab vorgelegten Berichtes hat etwas Symbolhaftes an sich. Am Anfang undam Schluß steht das Bekenntnis zu dem Hochziel: Freiheit und Unabhängigkeit Oesterreichs und der Wille, wenn es sein muß, den Kampf „mit geistigen Waffen bis zur letzten Konsequenz" zu führen. Alles ist umfangen von diesem Entschluß. So auch die Gesamtschau über das von Parlament und Regierung für Festigung und Sicherheit der privaten und staatlichen Wirtschaft und die Weiterbildung des sozialen Rechtes Erstrebte und Erreichte, dieser unter einem Aufstieg aus tiefster Not vollbrachte Wiederaufbau der Lebenskräfte unseres Landes. Der Bericht des Bundeskanzlers gipfelte in dem Appell an unser ganzes Volk: „Oesterreicher, die ihr in den letzten Jahren in gemeinsamer Arbeit die Grundlagen unserer wirtschaftlichen Existenz sichergestellt habt, tretet nunmehr ebenso entschlossen zum Endkampf an, um euer Recht und eure Freiheit!“

Der diese Worte sprach, ist kein Pathetiker und kein Mann der großen, für den Augenblickserfolg berechneten, nie eingelösten Verheißungen. Auch seine Parteigegner wissen, wer Raab ist. Sie kennen diesen wirklichkeitsnahen illusionsfreien Realisten der praktischen Arbeit. Er wendet sich von der Tribüne dergroßen Tagung seiner Partei mit seinem Aufruf zum gemeinsamen Ringen für das große Ziel auch an das große Lager jener von der anderen Fakultät. Der Ernst dieser ungewöhnlichen Apostrophe in dem Rahmen des Parteitages und in dieser Form wird, so denken wir, verstanden werden. Hier redet ein feiner Pflichten und seines Tuns wohl bewußter Mann, aber auch über Staatsgrenzen hinüber, um niemanden im Zweifel zu lassen, daß dieses durch neun Jahre harter Enttäuschungen gepeitschte geduldige Volk durch seinen Vormann die Gewissen der Welt anruft. Es ist kein verhungerndes Land, dessen Menschen um Gnade bitten. Zwar gibt es im Wörterbuch der Widersacher der Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit Oesterreichs kein beliebteres Schlagwort als das von der Lebensunfähigkeit Oesterreichs. Es war schon bei seinem ersten Erscheinen eine zweckbewußte Erfindung. Heute ist es die Verleugnung eines arbeitsamen und erfolgreichen Volkes, das sich eine aktive Handelsbilanz, einen ausgeglichenen Staatshaushalt, eine standfeste Währung geschaffen hat, das 83 Prozent seines Lebensmittelbedarfes von seiner eigenen Landwirtschaft aufbringen läßt, ein Land, dessen Industrieprodukt, dessen ansehnliche Ausfuhr im Steigen begriffen und das imstande ist, die Devisenbeschaffung in großer Breite abzubauen, systematische Steuersenkungen zu vollziehen, für das kommendeJahr eine neue Erleichterung der Einkommensteuer zu inaugurieren, die lineale Behandlung der Beamtengehälter zu verlassen und die Kinderbeihilfen auf die Familien der selbständig Erwerbstätigen auszudehnen. Der Lebensstandard der Bevölkerung ist im Aufstieg, und die internationale Clearingstelle verzeichnet heute Oesterreich unter den Gläubigerstaaten Europas.

Wir bauen auf! So reklamiert Oesterreich durch den Mund seines Bundeskanzlers sein Lebensrecht als freier, unabhängiger Staat, der befähigt ist, ohne Wasserbomben und monderobernde Flugzeuge an einer der brennheißen Scheidelinien Europas der Ordnung und dem Frieden zu dienen. Immer wieder muß der Vorhalt erhoben werden: Nach welchem Recht wird ein Staat, der kein Kriegsteilnehmer und kein Kriegsverbrecher war, noch länger mit einer Existenz diskriminiert, die ein völkerrechtliches Kuriosum darstellt ? Rührt sich nichts, den Kuriositätenladen zu schließen ? Doch. Von Moskau hat die Bundesregierung auf ihre Bitte, über die Erleichterung des Besatzungsregimes das Gespräch zu eröffnen, die Antwort erhalten, die Sowjetregierung sei nicht darüber, aber über den Staatsvertrag zu sprechen bereit. Hier mag nur ein schwacher Hoffnungsschimmer glimmen. Der österreichische Kanzler will ihn nicht verlöschen. Niemand soll Klage führen können, daß ein .ansetzendes Flämmchen etwa von müden Pessimisten sofort ausgeblasen wird. Aus .solcher Erwägung also keine Ablehnung der Moskauer Bereitschaft, aber das rückhaltlose Beifügen: Die Unterschrift Oesterreichs kann nicht für einen Staatsvertrag in Betracht kommen, solange sie nicht auch mit der Befreiung von der militärischen Besatzung verbunden ist. „Wir wollen unsere Freiheit und unsere Unabhängigkeit erlangen!", war das unerschütterliche Ceterum censeo!

Freiheit und Unabhängigkeit und der Staatsvertrag! Wann immer der Staatsvertrag auf der Tagesordnung steht — er ist der Entscheid über unsere Freiheit. In seinen Paragraphenreihen sind Fangschnüre versteckt, imstande, die Freiheit unseres Landes für eine nicht absehbare' Zukunft zu erdrosseln. Ein Staat ist nicht frei, dem noch die Fesseln des Versailler Vertrages und seines österreichischen Seitenstückes anhängen; ein Staat ist nicht frei, dem das Asylrecht, das Ehrenrecht jedes un-

abhängigen Staates, verweigert wird. Ein Staat, ist nicht frei, der durch einen Staatsvertrag gezwungen wäre, überständige Ausnahmegesetze gegen seinen Willen aufrechtzuerhalten. Ein Staat ist nicht frei, der an dem Strom in seiner Mitte nicht einmal die Verfügungsrechte des Anrainers besitzt, an seinen Ufern Schiffswerften und sonstige Bauten und mitten durch das Ufergelände der Hauptstadt einen langen Streifen fremdstaatlichen Eigentums zulassen soll, der selbst nach dem Abzug der Be satzungstruppen einen Gürtel fremden Machtbereiches um die größte Wasserstraße Mitteleuropas innerhalb seines Hoheitsgebietes spannt.

Das Wort Staatsvertrag wird einmal das wahre Schicksal Oesterreichs umschließen. Niemand weiß dies besser als der Bundeskanzler. Deshalb sein eindringlicher Sammelruf an das österreichische Volk zur Vereinigung aller gesunden Kräfte zum Ringen um unsere Freiheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung