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CSSR: Zwischenbilanz

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Das tschechoslowakische politische Tauwetter ist noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung angeiangt, dennoch zeichnen sich immer mehr die Grenzlinien ab, über die es nicht hinaus darf. So gaben die politischen Beobachter in Prag ihrer Meinung Ausdruck, daß die Etablierung einer politischen Freiheit im Sinne westlicher demokratischer Regierungsund Institutionsformen in keiner Weise auch nur annähernd erreicht werden kann. Alexander Dubček, der neue erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, dämpft in jeder seiner Reden und in allen seinen Ausführungen falschen Enthusiasmus der allzu Naiven im Land und außerhalb. So ist, wenn auch innenpolitisch sichtlich dem Beispiel Jugoslawiens mit stärkerer Ankurbelung der industriellen und landwirtschaftlichen Arbeit durch Schaffung von gewissen Konkurrenzverhältnissen innerhalb der staatlich gelenkten Wirtschaft sowie vielleicht auch auf dem Gebiete einer Verständigung mit der Kirche gefolgt werden soll, eine außenpolitische Loslösung vom Sowjetblock, wie sie Jugoslawien schon vor 20 Jahren vollzogen hat, in der Tschechoslowakei absolut unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich dünkt einen die Hoffnung der in der „Nationalen Front” neben den Kommunisten formal zugelassenen nithtkommunistischen Schatten- parteien, der „sozialistischen” Partei der Benesch-Nachfolge und der Katholischen Volkspartei, in wirklieh spektakulärer Form aus dem bisherigen Schatten ins Licht treten zu dürfen; sie haben ihre Vorsitzenden gewechselt und — der derzeitigen Volksstknmung entsprechend — zahlreiche Neueintritte von optimistischen Anhängern zu verzeichnen, doch ist zum Beispiel eine Verwirklichung des Postulats der Sozialisten, die führende Rolle der Kommunistischen Partei solle nicht mehr verfassungsmäßig verankert bleiben, reine Fata Morgana. Dies wurde von allen „Reformern” bestätigt.

Das Positive der heutigen Vorgänge in der Tschechoslowakei liegt jedenfalls in dem sich allenthalben manifestierenden Mut, frei zu sprechen und zu kritisieren. Das hebt die Stimmung, sorgt für glückliche Abreaktion des Alltagsärgers, verursacht gute Laune auch ohne daß unbedingt konkrete Grundlagen zu einer solchen vorhanden sein müssen. Es ergibt sich der Zustand, der im wienerischen Jargon heißt: „Besser als nix is schon!” Das ist viel und für eine „humane Atmosphäre” zukunftsträchtig, wenn auch logischerweise viele Blütenträume nicht reifen werden.

Es bleibt ein großes Fragenpaket

Auf der negativen Seite der heutigen Situation stehen folgende Tatsachen:

1. Dubček hat es abgelehnt, Neuwahlen im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei durchführen zu lassen, wie sie der Wirtschaftsreformer Professor Dr. Ota Sik (Otto Schick, deutschjüdischer Abstammung), zur Verwirklichung seines Reformprogramms für notwendig gehalten hat,

2. Die Sowjetunion, Polen und die sogenannte Deutsche Demokratische Republik stellen sich gegen den neuen Kurs der Tschechoslowakei.

3. Die Jugend und die Führung der Kommunistischen Partei sind sich in der Frage des Festhaltens an einer einheitlichen Jugendorganisation total uneinig. Während Dubček in seiner Rede vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei beschwörend ausrief: „Die Jugendbewegung sollte ihre Einheit nicht auf geben!”, erwiderte ihm die Prager Zeitung „Mladä Frontą” (Junge Front): „Der Verband der tschechoslowakischen Jugend ist in seiner heutigen Form in den Augen der Jugend diskreditiert — die Knaben und Mädchen glauben nicht mehr, daß er ,ihre’ Organisation sein könne… die künstlich aufgezwungene und administrativ gewaltsam zusammengehaltene Einheit zerfällt gesetzmäßig — ein föderativer Dachverband von selbständigen Jugendorganisationen kann vielleicht kommen, aber nicht befohlen werden; es müßte ein völlig freiwilliger Prozeß vor sich gehen..

4. Allenthalben wird gestreikt, was der ohnehin am Rand der Katastrophe befindlichen tschechoslowakischen Wirtschaft keineswegs zum Vorteil gereichen kann: Die Arbeiter verlangen Lohnerhöhungen, die Betriebsleitungen können sie nicht bewilligen. Sogar die Feuerwehr in Prag ist in den Streik getreten.

5. Die Armee befindet sich in einer Krise, die, wie Generaloberst Sacher erklärte, auf die Entlassung ihrer fähigsten Kommandanten in der Ära des früheren Verteidigungsministers Čepička (1950—1956) und der dann erfolgten Einsetzung von in Schnellkursen ausgebildeten, unfähigen Kommandanten zurückzuführen sei.

6. Vollkommene Ratlosigkeit herrscht auch bei der neuen Führung des Staates und der Kommunistischen Partei in bezug auf die deutsche Frage: Hier ist weder in der Haltung gegenüber der Frage der drei Millionen ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher Zunge, der 1945/46 ausgesiedelten Sudetendeutschen, noch in der Haltung gegenüber den beiden Teilen Deutschlands ein Fortschritt zu verzeichnen. Prof. Framtišek Snejda- rek, der gerade an einer Woche deutsch-tschechoslowakischer Annäherung in Frankfurt teilgenommen hat, gab in Prag bekannt: „Von beiden Teilen Deutschlands droht uns Gefahr; auch wenn die DDR eines Tages die Bundesrepublik verschlucken sollte, wäre das für die Tschechoslowakei gefährlich.”

Das ist die Zwischenbilanz im Mai 1968. Vor Euphorie muß jedenfalls gewarnt werden.

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