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Der Lohn des Abwartens

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Während so manche kommunistische Partei des Ostens und des Westens immer noch bemüht ist, die Schockwirkung von Chruschtschows Sturz zu verarbeiten und den monolithischen Charakter der Parteiführung zu wahren, wählten 294 Abgeordnete des Prager Parlaments am 12. November in traditioneller Einstimmigkeit erneut den Parteichef

Novotny zum Staatsoberhaupt der Tschechoslowakischen Republik.

In Prag geht man zur gewohnten Tagesordnung über mit dem beruhigenden Gefühl, den letzten Szenenwechsel im Kreml ohne jede Erschütterung überlebt zu haben: Keine einmalige Leistung der tschechoslowakischen KP, die sich von allen Schwesterparteien dadurch unterscheidet, daß sie — seit ihrer Gründung nach dem ersten Weltkrieg — das Kunststück vollbracht hat, nach jeder Änderung im Kreml und dem Moskauer Politbüro auf der Seite der siegreichen sowjetischen Parteifraktion zu stehen. Die Prozesse, die blutigen „Tschistkas” der dreißiger Jahre, die Abkehr von den sogenannten „stalinistischen” Methoden, alles das machte die tschechoslowakische KP mit jener Fertigkeit durch, die vorschreibt, sich nie ganz festzulegen, das Lippenbekenntnis der bekennenden und eindeutigen Tat vorzuziehen und — abzuwarten.

Und doch scheint dieser zur Perfektion entwickelte Opportunismus einer KP, die heute das Herz Europas beherrscht, unbeachtet geblieben zu sein. Wie sonst könnte man sich erklären, daß die westliche Publizistik Novotnys Wiederwahl ebenso falsch interpretiert, wie die seinerzeitigen Anzeichen einer tschechoslowakischen „Destalinisierung”?

Mit gebotener Vorsicht

Der Schlüssel zum Verständnis der tschechoslowakischen kommunistischen Taktik liegt nicht nur im politischen Realismus des tschechischen

Volkes, sondern auch in der Struktur der Partei selbst: Es ist die einzige KP Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die während der beiden Weltkriege eine legale Existenz führte und darum fähig war, eigene, feste und tief gestaffelte Kader aufzubauen. Im Gegensatz zu den Schwesterparteien des kommunistischen Blocks kann sie daher ohne allzu großer Rücksicht auf die breiten Massen der Parteilosen und der Andersdenkenden regieren. Sie muß keine Rücksicht auf eine militante katholische Majorität nehmen, wie die KP Polens, denn besonders in den westlichen Provinzen der CSSR kann von religiöser Indifferenz als dem traditionellen Erbe der tschechische®’ Geschichte gesprochen werden. Sie muß abpr s pch nicht allzu große Konzessionen an den Stolz eines romantisch-national denkenden Volkes zu machen, wie die KP Jugoslawiens. Sie muß nie vor der Möglichkeit einer Revolte wie das ungarische Regime zittern. Unter diesen Umständen wird die Aufgabe, das Regime durch die verschiedenen doktrinären Strömungen und Wandlungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung zu steuern, bedeutend vereinfacht: Was bleibt, ist die gebotene Vorsicht, jähe Wendungen nicht mitzumachen, um nicht die Stabilität des Regimes durch spätere Rückzieher und Erschütterungen zu gefährden.

Der wiedergewählte Präsident Novotny war einer der führenden Exponenten der brutalen stalinistischen Ära, einer der drei Hauptverantwortlichen für den in der Zeit des dunkelsten Stalinismus geführten Slansky-Prozesses. Aber ebenso kann er als Exponent der Chru- schtschowschen Liberalisierung angesehen werden. Er wird auch weiter die Geschicke seiner KP und des tschechoslowakischen Staates führen, obwohl kaum jemand die Zeichen der neuen Moskauer Tendenzen zu deuten weiß.

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