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In Berlin — doch ein Schisma?

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Ein ,,historisches Ergebnis von weitreichender Wirkung“ nannte „Neues Deutschland“ die Konferenz, zu der sich die Führer von 29 kommunistischen Parteien in Ost-Berlin versammelt hatten. Vielleicht erweist sich die Voraussage als so wahr, wie es der SED gar nicht lieb sein kann. Denn das Ostberliner KP-Treffen wird in die Chronik des' europäischen Kommunismus als dasjenige eingehen, auf dem der politisch-ideologische Fühcungsanspruch-der KPdSU im internationalen Kommunismus endgültig und hochoffiziell zu Grabe getragen wurde. Die Konferenz erscheint so als Konsequenz einer Entwicklung, die durch tiefgreifende Differenzen und Divergenzen unter den kommunistischen Parteien Europas bestimmt Worden ist. Die Gefahr eines Schismas, ähnlich dem sowjetisch-chinesischen Konflikt, ist keineswegs gebannt.

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Ein ,,historisches Ergebnis von weitreichender Wirkung“ nannte „Neues Deutschland“ die Konferenz, zu der sich die Führer von 29 kommunistischen Parteien in Ost-Berlin versammelt hatten. Vielleicht erweist sich die Voraussage als so wahr, wie es der SED gar nicht lieb sein kann. Denn das Ostberliner KP-Treffen wird in die Chronik des' europäischen Kommunismus als dasjenige eingehen, auf dem der politisch-ideologische Fühcungsanspruch-der KPdSU im internationalen Kommunismus endgültig und hochoffiziell zu Grabe getragen wurde. Die Konferenz erscheint so als Konsequenz einer Entwicklung, die durch tiefgreifende Differenzen und Divergenzen unter den kommunistischen Parteien Europas bestimmt Worden ist. Die Gefahr eines Schismas, ähnlich dem sowjetisch-chinesischen Konflikt, ist keineswegs gebannt.

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Schon die Vorgeschichte der Konferenz hatte tiefgreifende Gegensätze erkennen lassen. Sie bedingten immer neue Verzögerunigen, weil sich die beteiligten kommunistischen Parteien nicht auf ein für all« annehmbares Konferenz-Dokument zu einigen vermochten. Was dann als „Grundsatz-Papier“ in Ost-Berlin gebilligt wurde, eine Erklärung „Für Frieden, Sicherheit, Zusammenarbeit und sozialen Fortschritt in Europa“, bestätigt die bestehenden Meinungsverschiedenheiten auf besondere Weise: Festgeschrieben sind darin zwar die Gemeinsamkeiten, zu denen sich die kommunistischen Parteien in Ost- und Westeuropa in zähen, mühsamen Verhantdllungen durchringen konnten, aber es ist nur ein „begrenzter Kreis von Fragen“, der behandelt wird. In vielen Fragen kommen die europäischen Kommunisiten heute eben nicht mehr au gemeinsamen Auffassungen.

In dem Schluß-Dokument ist ausdrücklich das Recht einer jeden KP auf eine „völlig selbständig und unabhängig ausgearbeitete und beschlossene Linie“ verbrieft. Dementsprechend fehlt der Begriff des „proletarischen Internationalismus“ in der Erklärung. „Internationalistische ' kameradschaftliche, freiwillige Zusammenarbeit und Solidarität“ — das ist idiie neue Formel.

Ein Triumph also der sogenannten Autoniomiisten, der ,J5urokommund-sten“, der auf Unabhängigkeit gegenüber Moskau bedachten kommunistischen Parteien vornehmlich .Italiens, Spaniens, Frankreichs und Großbritanniens? Ein Triumph nicht zuletzt auch des rumänischen KP-Ohefs Nicolae Ceausescu und Josip Broz Titos, des greisen Partei- und Staatschefs Jugoslawiens? Vordergründig scheint es tatsächlich so, als hätte der sowjetische KP-Generalsekretär Leonid Breschnjew mehr als

einen Pflock zurechtgesteckt, aber das ist nur eine Seite der Medaille.

Gewiß haben die Wortführer des Eurokommunismus, Enrico Berlin-guer vor allem und Georges Marchais, in ihren Reden andere Wege zur Macht aufgezeigt, als sie in der Sowjetunion und in anderen Staaten des Ostblocks beschritten wurden.

Bei alledem sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die in Ost-Berlin versammelten 29 KP-Führer jedenfalls auch durch eine wesentliche Gemeinsamkeit verbunden sind — durch ihren Willen zur Macht. Und einig sind stie sich weiter darin, die Politik der friedlichen Koexistenz, wie sie in der in Helsinki unterzeichneten Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa niedergelegt worden ist, als Hebel zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Westeuropa zu nutzen. Es wäre ein für die westlichen Demokraten geradezu tödliches Mißverständnis, die erklärte Bereitschaft der kommunistischen Parteien zur Entspannung als Verzicht auf Klassenkampf zu begreifen, als Anerkennung des Status quo in Europa.

Wie man weiß, war es von Anfang an Breschnjews Intention, die kommunistischen Parteien Europas auf dem Ostberliner Treffen auf eine Strategie und Taktik einzuschwören, die auf der Moskauer Interpretation der KSZE-Prinzipien fußt. In vollem Umfange ist das zwar nicht gelungen. Allzu deutlich fiel die Absage an jedweden politisch-ideologischen Füh-rungsan-spruch der KPdSU, an irgendein Zentrum des internationalen Kommunismus aus. Gleichzeitig aber muß das Zustandekommen der •KontfierenK als ein politischer Erfolg Breschnjews gewertet werden.

Von dem Dokument, das die Ostberliner KP-Konfereniz angenommen ■hat, wind eine politische Langzeitwirkung ausgehen. Sie muß nicht unbedingt auf Westeuropa beschränkt bleiben, wo das Dokument die polltische Aktionseinheit mit Kommunisten fördern soll. Denkbar sind ebenso Rückwirkungen auf Osteuropa. Die Reden von Berlingiuer, Marchais und anderen Autanomdsten, die in Ost-Berlin in vollem Wortlaut veröffentlicht wunden, machen es der SED künftig schwerer als bisher, oppositionelle Forderungen etwa nach innerer Demokratisierung als „revisionistisch“ zu verdammen oder dem sowjetischen Sozialismus-Modell historische Allgemeingültig-keit zu attestieren. Darin liegt die Ambivalenz der Ostberliner Erklärung: Sie kann auch auf das politische Denken in Osteuropa Einfluß nehmen.

Nicht zuletzt der SED Wird dieser Gedanke unbehaglich sein. Ihre totale Unterwerfung unter den Moskauer Führiunigsanspruch paßt seit derj.? Ostberliner KP-Gipfel weniger denn je zu jenem Streben nach Emanzipation und Autonomie, das derzeit die Mehrheit der kommunistischen Parteien bestimmt.

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