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Ein Ventil für Intellektuelle

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Man machte auch in der CSSR Konzessionen, als Chruschtschows Kurs die stalinistische Periode ablöste: Man rehabilitierte einige Opfer des Stalinismus, aber nur spärlich, zögernd, erst nach Jahren, ohne öffentliches Aufsehen. Die Gehenkten des Slansky-Prozesses konnte man nicht zum Leben erwecken, und man begnügte sich damit, die ursprünglich erhobenen Beschuldigungen zwar abzuschwächen, wogegen andere Verfehlungen der Opfer aber neu unterstrichen wurden. Die Überlebenden rehabilitierte man in die Anonymität von Universitätsarchiven, Forschungszentren und Heilanstalten. Man öffnete ein Ventil für unzufriedene Intellektuelle, aber dies geschah mit weiser Vorsicht, unter Kontrolle und überwiegend in der Slowakei, wo das traditionelle Ressentiment gegen Prag ebenso groß, wie die Möglichkeit, daß slowakische Schriftsteller

Einfluß auf breite Massen ausüben könnten, gering bleibt Tschechische Schriftsteller maßregelte man sozusagen präventiv und zur rechten Zeit. An die Spitze der aufsässig gewordenen slowakischen Intellektuellen setzte man durch Verfügung von oben den Schriftsteller Mnacko, von dem man allerhöchsten Ortes weiß, daß er zwar stalinistische Methoden ablehnte — aber erst, als der Stalinismus schon begraben war und Angriffe gegen die Vergangenheit nicht nur erlaubt, sondern auch als „Beweise” des neuen Kurses erwünscht erschienen.

Mnackos Ruf nach einem größeren Maß intellektueller Freiheit ist symptomatisch für die tschechoslowakische Situation, in der „Apparatschiks” als „Revolutionäre” auftreten: Tatsächlich geht es um den Schutz der Linientreuen vor der Willkür der Führung, aber gleichzeitig kanalisiert man die Unzufrie-

denheit und das Unbehagen der parteilosen Massen, um sie unter Kontrolle zu behalten und nutzbringend für eigene Ziele zu gebrauchen. In der CSSR tat man „als ob”, um genügend Beweise für die „Liberalisierung” zu haben und eventuellen Kritiken Chruschtschows standzuhalten, aber die Schraube der Staatsund Parteikontrolle wurde kaum so gelockert, als daß man sie nicht jederzeit mühelos wieder anziehen könnte. Das Ausscheiden von einigen stalinistischen Persönlichkeiten aus der Regierung glich mehr einem internen Abkommen zwischen den Mitgliedern der Parteiführung und kam praktisch einem fälligen Generationswechsel gleich. Den einzigen, der vielleicht als „Liberaler” gefährlich werden konnte, Minister Barak, schickte Novotny mitten in der Periode der „Liberalisierung” ins Gefängnis.

„Liberale” und „Stalinisten”

Die westliche Interpretation beging einen grundsätzlichen Fehler: Man versuchte immer wieder, die

Entwicklung innerhalb der tschechoslowakischen KP und ihre Auswirkung in der CSSR dem Wunschbild einer progressiven Liberalisierung des Ostblocks anzupassen: Man überwertete das Auftreten einzelner Intellektuellen und hielt es für eine grundsätzliche Tendenz der Parteipolitik. Man stempelte Novotny zu einem „Liberalen”, Barak zu einem „Stalinisten” und betonte die persönliche Freundschaft Chruschtschow-Novotny, um die nicht ganz überzeugenden Tatsachen in das erwünschte Klischee einzuzwängen. Dabei wurde übersehen, daß die tschechoslowakische KP meisterhaft und taktisch vollendet die klassische Politik des Abwartens verfolgte. Im Westen, besonders aber in Amerika, wo die Vergangenheit der tschechoslowakischen KP ebensowenig bekannt zu sein scheint wie die der KP Nordvietnams, deutete man die Politik der Prager KP nach den publizierten und errechneten Tendenzen Chruschtschows, wobei der umgekehrte Vorgang angebrachter gewesen wäre: Chruschtschows Chancen inmitten der eigenen sowjetischen sowie der chinesischen Gegner nach dem Maß der tatsächlichen Auswirkung seiner Thesen im tschechoslowakischen politischen Leben zu bewerten. Die tschechoslo wakische KP schlängelte sich durch die Ära Chruschtschow mit taktischen Mitteln, die zu sagen schienen: Warten wir erst einmal ab, ob Chruschtschow überhaupt überlebt.

Als die sensationelle Wende im Kreml eingetreten ist, ließ sie die westliche Welt vor Überraschung verstummen. In Prag dagegen hat die konsequente und traditionelle Politik der KP erneut ihre Früchte getragen: Sich nicht festlegen und abwarten, um — wie immer in der Vergangenheit — in der Lage zu sein, auf den Kurs der siegreichen Moskauer Fraktion einschwenken zu können, ohne das Steuer plötzlich und für das Staats- und Parteischiff gefährlich verreißen zu müssen.

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