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Der Geist Stalins

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Nach dem Sturze Chruschtschows erhielt die Französische Kommunistische Partei von Freunden Chruschtschows in der Sowjetunion ein „Geheimdokument“ zugespielt, in dem den Gegnern des Gestürzten auf unerbittliche Weise der Prozeß gemacht wird. Die Französische KP wagte es nicht, das Dokument zu veröffentlichen, doch geriet dieses dann in die Hände der Herausgeber des Periodikums „Chronique sociale de France“ in Lyon, einer Gruppe von katholischen Theologen, Philosophen und Wissenschaftlern, die sich in ausgezeichneter Weise um eine Analyse des zeitgenössischen Marxismus und um einen Dialog mit dem Kommuniismus bemühen. Diese veröffentlichten das Dokument in französischer Übersetzung, zusammen mit der Faksimilewiedergabe der beiden ersten Seiten des russischen Originals. Die Verfasser des Dokuments sind unbekannt, aber nach den Worten der Herausgeber besteht „kein Zweifel an dessen Authentizität“.

Wer nun dieses Dokument heute, mit Abstand zu Chruschtschows Sturz, liest, der stellt mit einer gewissen Erleichterung fest, daß Chruschtschows Freunde damals allzu schwarz gesehen haben. Manche ihrer pessimistischen Prognosen — so etwa diejenige einer Verschwörung zwischen den neuen Herren im Kreml und Rotchina im Zeichen Stalins — haben sich nicht erfüllt. Überhaupt zeichnet sich das Dokument negativ durch eine einseitige Parteinahme zugunsten Chruschtschows und zuungunsten seiner Gegner aus, die der Wirklichkeit kaum gerecht wird.

Aber daneben finden sich Sätze, die doch etwas nachdenklich stimmen. Vom „Persönlichkeitskult“ — lies: Stalinismus — wird etwa gesagt, es handle sich dabei um eine weit gefährlichere Krankheit, als viele ausländische Genossen annähmen. Und zwar deshalb, weil es „reaktionären“ Elementen gelungen sei, in die Reihen der Partei und in die leitenden Organe des Staates einzudringen. Zwar habe man viele der für die Verbrechen des Stalinismus Verantwortlichen davongejagt, aber trotzdem seien zahlreiche Partisanen der alten Ordnung unberührt geblieben. Sie hätten sich in ihren Schlupfwinkeln vergraben und maskiert, um einen günstigen Augenblick für den Angriff abzuwarten. Man müsse zugeben, daß man ihre Kraft und ihren Einflußbereich unterschätzt habe.

Es heißt dann weiter, es könne zwar nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß es diesen Kräften nicht gelingen werde, die alte Ordnung voll und ganz wiederherzustellen. Die Partei und das sowjetische Volk, „dessen politisches Bewußtsein während des letzten Jahrzehnts unermeßlich gewachsen ist“, würden dies nicht zulassen.

Diese aus der Sowjetunion selbst stammende Deutung der Situation stimmt weitgehend überein mit der Analyse der Situation in den osteuropäischen Staaten, wie man sie von „aufgeschlossenen“ Osteuropäern — Parteileuten und Nichtkommu-nisten — zu hören bekommt. Die gegenwärtig im Westen publizistisch stark aufgebauschten „Liberalisierungsmaßnahmen“ auf wirtschaftlichem Gebiete verdecken die Tatsache, daß hinter den Kulissen ein harter Kampf zwischen Alt- oder Neostalinisten und den fortschrittlichen Kräften im Gange ist. In Frankreich wie in der Sowjetunion sind nach dem XX. Parteitag die am meisten belasteten Stalinisten, die führende Positionen innehatten, in die Wüste geschickt worden. (Ausnahmen wie die DDR bestätigen die Regel.) In den mittleren und unteren Rängen wurde jedoch keine Säuberung durchgeführt, was damit begründet wird, daß man auf die Mitarbeit der Stalinisten aus fachlichen Gründen angewiesen war und ist. Zunächst verhielten sich die Stalinisten lammfromm, aber die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen fast alle osteuro-päiischen Staaten — und auch die Sowjetunion — zu kämpfen haben, und die wesentlich durch die amerikanische Intervention in Santo Domingo und Vietnam provozierte Verhärtung der internationalen Lage haben ihnen inzwischen den Rücken gestärkt. Heute wagen sie sich wieder mehr oder weniger offen zu ihren Ideen zu bekennen. Darüber hinaus ist es ihnen auch gelungen, gewisse Machtpositionen zu erringen.

Freilich gibt es sowohl frühere Stalinisten, die inzwischen umgelernt haben, wie andere, die früher keine Stalinisten waren, inzwischen aber eine Art Retourkonversion erlebt haben. Wer was ist, ist gelegentlich sehr schwer festzustellen, aber unbestreitbar ist die Tatsache, daß ein Ringen zwischen reaktionären und fortschrittlichen Kräften stattfindet. Von diesem Ringen wird, wie man aus zuverlässigen Quellen hören kann, selbst die Position eines Gomulka in Polen und eines Kadar in Ungarn berührt. Was das Kräftespiel in der Sowjetunion anbelangt, so scheint man sich dort noch immer in einem Balanceakt zu üben. Es gibt Anzeichen, die man als Beweis für einen fortschrittlicheren Kurs und andere, die man eindeutig als Rückfall in gewisse Methoden der Vergangenheit interpretieren muß. Das bewirkt — ganz abgesehen von den Folgen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten — eine Zunahme der innenpolitschen Malaise.

Mit alledem soll keineswegs der Teufel einer Restalinisierung im sogenannten Osten an die Wand gemalt werden. Sozusagen alle ernst zu nehmenden westlichen“,,Ostexperten“ sind sich darüber einig, daß eine Rückkehr zu einem Voll-Stalinismus so gut wie ausgeschlossen ist. Dasselbe hört man von objektiven Beobachtern aus den Oststaaten selbst. Aber anderseits darf man die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen, die von einem gewissen Wiedererstarken stalinistischer Kräfte zeugen.

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