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Ideologischer Schatz in Ungarn

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Die ungarische Bevölkerung war nach dem 21. August 1968 vorerst von Überraschung, Ernüchterung, Unsicherheit und Angst förmlich überwältigt, später von zwei Fragen gequält, auf die die Budapester Regierung dringend beruhigende Antwort erteilen mußte. Erstens: War die Invasion des Nachbarlandes durch starke Kräfte der Warschauer-Pakt- Armee eine unumgängliche Notwendigkeit? Zweitens: Wind die Unterdrückung der tschechoslowakischen Reformbewegung auf der ungarischen heimatlichen politischen Bühne Konsequenzen nach sich ziehen?

Am 22. September 1968 warnte die Parteizeitung „Nėpszabadsėg” vor „falschen Konklusionen”, daß die Ereignisse in der CSSR zur Neuinterpretation der Regiierungspolitlk führen könnten. Weder das Volk noch idie Regierung wünschten die Störung des gut eingespielten Zusammenwirkens. Gerade die Ereignisse in der CSSR hätten es bewiesen, daß die ungarische Parteilinie die richtige seh Die Intervention der Warschauer-Pakt-Armee bilde eine „Wasserscheide”, für Ungarn jedoch nur eine Warnung, daß die Linie des 9. Parteikongresses (November 1966) die einzig richtige gewesen sei.

Kädärs wachsame Augen…

Das „Geheimnis” des Erfolges der ungarischen Partei lag nach Auffassung des Kädär-Teams darin, daß der Zweifrontenkrieg gegen Rechtsund Linksextremisten praktiziert wurde. Indes und trotz ungarischer Warnung hätte die Prager Parteiführung nur die extreme Linke anvisiert. Kädärs persönliche Erfindung und Theorie vom Zweifrontenkrieg sei zum „ideologischen Schatz der internationalen kommunistischen Bewegung” geworden! Seit Mitte Juli 1968 ließ Kädär seine wachsamen Augen auf seinen Rechtsopponecnten ruhen, die sich von Prag ermutigt fühlten. Laut Kädärs Vertrauten wär? wesen” ankunehmen, ‘daß in der CSSR alle Parteimitglieder den Sieg des Sozialismus herbeigewünscht hätten. Kädär wußte wohl, daß auch in Ungarn nicht wenige Leute von einer „tschechoslowakischen Entwicklung” geträumt hatten. Nun gilt die erhöhte Aufmerksamkeit der Kä- därianer . aber mehr den Linksab- weichem im Lande, die durch die Unterdrückung in der Nachbarschaft zur Ungeduld ermuntert waren. Die ungarischen Regimeführer denken, daß sich die Genossen in Prag endlich auch zum „Zweifrontenkrieg” ä la Kädär entschlossen hätten und nur so einen Ausweg aus der deprimierenden Krise finden werden. In Ungarn ist der erprobte Weg eine Lebensfrage und Notwendigkeit, besonders jetzt, da die Gefahr von links auch in Ungarn gewachsen ist.

Kurzum: Nicht nur die ungarische Bevölkerung, sondern auch das Regime haben größtes Interesse, die frühere Kädär-Linie beizubehalten. Eine Abweichung darf in keiner Richtung geduldet werden!

Im Räderwerk des Wirtschaftslebens sind kleine Funktionsstörungen aufgetreten, die seither schon behoben wurden. Die konkreten Maßnahmen, die in den vergangenen acht Monaten zur Verwirklichung der Wirtschaftsreform getroffen wurden, sind zur öffentlichen Diskussion freigegeben. Der Ministerrat beschäftigte sich am 29. August mit dem „Neuen Wirtschaftsmodeil” und beschloß gewisse Detailänderungen ohne Anrührung des Ganzen. Das Kabinett ordnete an, daß die Fachminister Modifikationen fürs Jahr 1969 ausarbeiten sollen. Auch das Budapester Parteikomitee, das größte in Ungarn, hat die ökonomischen Resultate ausgewertet und bezeichnete sie — mit Recht — als zufriedenstellend.

Kein Wort gegen Moskau!

Die „doppelte Verantwortlichkeit” erfordert eine absolute Treue zu Moskau in allen Belangen, daher werden keine „antisowjetischen” oder „nationalistischen Elemente” geduldet. In dieser Beziehung darf es keine „Duplizität” geben. Keine „verschleierten Bemerkungen dürfen die Atmosphäre vergiften”. Es gibt ja genug andere Giftstoffe im All-ttag, die voraussehend behoben werden müssen. Die konkreten Aufgaben sind nach Auffassung der Kädärianer dringend. Ihr Programm in einigen Worten: harmonische Planung notwendiger Preisänderungen im zentralistisch fixierten Preissystem; Revision der Umsatzsteuer; effektivere Nutzung der Arbeitskräfte; neue Kredit- und Währungspolitik; Einführung eines modernen Konsumentenmarktes, wobei der Wunsch der Verbraucher entscheiden soll.

Die Preisstabilisierung hat schon bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Der Wirtschaftsreform soll in nächster Zeit eine „Sozialreform folgen, worunter man in erster Linie eine politische sowie eine kulturelle Reform versteht. Die Entwicklung soll in einer neuen Verfassung kulminieren! Prag gab den Anstoß, daß heute in Partei- und Regierungskreisen ein resoluter Kampf gegen Bürokratie und für Modernisierung in verschiedensten Sektoren der Tätigkeit der lokalen und staatlichen Räte geführt wird. Nicht nur theoretische Scheindebatten sind entflammt, sondern ganz ernst wird über die Erweiterung der Rolle des Einparteipariaments, die Kompetenz der Gewerkschaften, die Überprüfung des Wahlsystems verhandelt. Es werden die Möglichkeiten zur Erweiterung der Demokratisierung studiert, die für viele Menschen wichtiger seien als die Vermehrung der Industrieproduktion. Die populärste Modeparole Ungarns lautet: „Die Entwicklung der Demokratie und die Steigerung der Humanisierung des Systems sind die wichtigsten Begriffe!” Von allen Seiten hört man die Forderung nach einem „vollerem Leben”. Die Menschen sollen mehr Mitspracherecht in der Regelung der Staatsaffären erhalten, damit sie frei, kritisch, effektvoll mitregieren können. Schön und gut, erwidert die Parteiführung, aber der gestärkte Geist der Verantwortlichkeit soll auch mitregieren. Zugegeben: Nicht nur ein neues Wirtschaftsmodell, sondern auch ein neues Modell der Demokratie soll geschaffen werden, daß auch für viele im Ausland nachahmenswert sein könnte, in welchem es aber keinen Platz für Demagogie geben darf — so die wachsamen Funktionäre.

Prager Krise noch nicht beendet

Mit Anspielung auf die tschechoslowakische Krise sagten selbst Kädär und Fock, daß die in der Luft schwebenden Konfliktstoffe nicht mit Gewalt, sondern nur im „anständigen Dialog” gelöst werden können.

In Budapester Regierungskreisen rechnet man nämlich mit einer gefährlicheren „unbekannten Quantität”, und zwar damit, daß die tschechoslowakische Tragödie keineswegs ein abgeschlossenes historisches Kapitel sei. Die Situation wird sich dort noch eher verschlechtern als verbessern. Sollte die UdSSR ihre Geduld Prag gegenüber verlieren und einen unbarmherzigeren Kurs einschlagen, so würde dadurch im ganzen Sowjeteuropa die politische Atmosphäre verschlechtert. Es wäre fraglich, ob Kädärs Mittelwegpolitik in einer solchermaßen veränderten Situation überhaupt noch ohne Konsequenzen fortgesetzt werden könnte.

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